Montag, 15. November 2021

Die Ukraine kann bei einem russischen Einmarsch nicht auf militärische Hilfe des Westens hoffen? Ich bin mir zumindest sicher, dass der Westen keine eigenen Truppen in die Ukraine schicken würde. Ein russischer Einmarsch ist eine realistische Option. Die Anzahl der russischen Truppenbewegungen und -massierungen, die wir in den letzten Tagen - und eigentlich seit Monaten - an der ukrainischen Grenze beobachten können, ist besorgniserregend.

 POLITIK

Krise in Belarus und Ukraine"Die Eskalation ist allein Russland zuzuschreiben"

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(Foto: picture alliance/dpa/Sputnik)

Warnungen vor einem russischen Einmarsch in der Ukraine und ein belarussischer Diktator, der die EU mit Migranten erpresst: Der Kreml fordert die westlichen Staaten heraus. Der Politikwissenschaftler Professor Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität in München erklärt, was Moskau antreibt, warum Putin so leichtes Spiel hat und wie die kommende Bundesregierung den Aggressionen begegnen sollte

ntv.de: Sie haben im Zusammenhang mit der belarussischen Migrantenschleusung an die EU-Außengrenzen von einer hybriden Kriegsführung gesprochen. Die Migranten werden in diesem Bild zynisch als Waffen oder Patronen eingesetzt, weil Belarus die EU nicht militärisch attackieren kann. Aber geht dieser hybride Krieg wirklich von Minsk aus oder eher vom Kreml?

Carlo Masala: Ich gehe davon aus, dass das Geschehen an der Grenze die Rückendeckung Moskaus hat. Aber Minsk ist der Akteur. Belarus‘ Staatschef Alexander Lukaschenko hat schon nach der Verhängung der EU-Sanktionen angekündigt, dass er Belarus zur Durchgangsstation für Migranten auf dem Weg nach Europa machen werde.

Warum gewährt der russische Präsident Wladimir Putin diese Rückendeckung?

Das ist Russlands Versuch, die EU weiter zu spalten. Putin hat damit auch einigen Erfolg, wie wir an den widersprüchlichen Forderungen der EU-Staaten sehen. Die einen wollen keinesfalls nachgeben, die anderen wollen zwar auch Belarus gegenüber hart bleiben, aber zugleich die Menschen aufnehmen. Wenn es noch hässlichere Bilder von Gewaltanwendung geben sollte, könnte das auch die Gesellschaft in Europa weiter spalten. Belarus gewähren zu lassen, ist Teil der russischen Destabilisierungskampagne.

Lukaschenko ist der Akteur. Aber Russland verhält sich mit seiner Zustimmung zum belarussischen Vorgehen erneut als Aggressor gegen den Westen?

Absolut. Flankierend zur Eskalation in Belarus unternimmt Russland ja weitere Dinge, die im eigenen Interesse sind. Das ist etwa die Truppenmassierung an der Grenze zur Ukraine.

Die Beziehungen zu Russland verschlechtern sich seit Jahren. Liegt die Schuld so eindeutig bei Moskau?

Die NATO-Staaten haben Fehler gemacht. Das ist nicht zu bestreiten. Die Eskalation aber ist allein Russland zuzuschreiben. Die russische Regierung versucht, mit kriegerischen und nicht-kriegerischen Maßnahmen andere Gesellschaften zu destabilisieren. Russland besetzt fremde Gebiete, Russland ist Akteur im Syrien-Konflikt; eskaliert also an allen Ecken und Enden. Russland will als revisionistische Macht das Ergebnis des Mauerfalls zurückdrehen.

Auf welchem Weg will der Kreml dieses Ziel erreichen?

Der Plan lautet, in jedes strategische Vakuum zu stoßen, dort für Probleme zu sorgen und durch die Massivität dieser Probleme die NATO-Staaten zu überfordern, weil sie keine kohärente Antwort darauf geben. Das ist die Idee, die Russland verfolgt.

Das scheint mit Blick auf Belarus gut zu funktionieren.

Die funktioniert erstaunlich gut. Moskau weiß, wo die Schwachstellen der westlichen Gesellschaften liegen, und bespielt die. Das ist genau der Punkt: Wir haben in Westeuropa eine Heidenangst vor Zehntausend Migranten.

Wenn Russland viele Brandherde schürt und die nach Belieben hoch- und runterfährt, um die NATO-Staaten beschäftigt zu halten, sollte sich der Westen nicht besser gleich auf Russland konzentrieren, anstatt sich mühselig an der Beilegung der vielen Konflikte - von Belarus, über Transnistrien, Ukraine und dem Kaukasus - aufzureiben?

Unsere einzige Möglichkeit ist, Russland durch Härte und Gegenmaßnahmen zu zeigen, dass wir uns nicht erpressen lassen. So könnte sich Russland irgendwann zu Verhandlungen bereit zeigen. Stattdessen finden wir nicht zu einer einheitlichen Position, versuchen aber dennoch mit Russland in Verhandlungen zu kommen. Russland hat aber nur Interesse an Verhandlungen, die in seinem Sinne verlaufen.

Welche Optionen hat der Westen?

Man könnte Sanktionen gegen Politiker und Militärs sowie gegen die Wirtschaft ausweiten. Die wegen der Krim-Besetzung verhängten Sanktionen sind nicht so hart, sonst würde die russische Wirtschaft mehr Probleme haben. Ein Ausschluss Russlands vom SWIFT-System zum Beispiel würde Russland wirklich treffen, weil die russischen Unternehmen dann nicht mehr am internationalen Zahlungsverkehr teilnehmen könnten.

Härte und Gegenmaßnahmen verlangen aber Geschlossenheit nach innen und Durchhaltewillen. Da befindet sich Russland mit seiner autoritären Regierung und leidgeprüften Bevölkerung im Vorteil, oder?

Das ist absolut richtig. Russland besitzt die Eskalationsdominanz. Das ist ein militärischer Begriff, der sich hier aber auch anwenden lässt. Hinzukommt die Angst, dass Russland uns als Reaktion auf Sanktionen kein Gas liefern wird. Wenn es einen kalten Winter gibt, steigen die Preise und wir müssen an unsere strategischen Gasreserven ran.

Deutschlands sicherheitspolitischer Kurs war im Bundestagswahlkampf kein Thema. Die kommende Ampelregierung will gerüchtehalber eher abrüsten als aufrüsten. Ist das ein Faktor in der laufenden Auseinandersetzung?

Es ist dergestalt ein Faktor, dass wir Russland unsere eigene Konzept- und Machtlosigkeit vorführen. Die Lektion ist: Der Kreml kann Europa am Nasenring durch die Manege führen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die westlichen Staaten wegen der Situation in Belarus oder der Ukraine in eine direkte militärische Konfrontation mit der Atommacht Russland gehen, tendiert gegen Null. Das alles ist dem Kreml bewusst.

Die Ukraine kann bei einem russischen Einmarsch nicht auf militärische Hilfe des Westens hoffen?

Ich bin mir zumindest sicher, dass der Westen keine eigenen Truppen in die Ukraine schicken würde. Ein russischer Einmarsch ist eine realistische Option. Die Anzahl der russischen Truppenbewegungen und -massierungen, die wir in den letzten Tagen - und eigentlich seit Monaten - an der ukrainischen Grenze beobachten können, ist besorgniserregend.

Aus russischer Perspektive oder Darstellung ist der Westen der Aggressor. Der Kreml wähnt sich eingekreist und vermeintlich legitime Einflusssphären Moskaus im post-sowjetischen Raum bedroht. Ist dieser Wahrnehmung so unberechtigt?

Die NATO hat sich mit der Zustimmung Russlands Richtung Osten erweitert, aber sie hat an der russischen Grenze keine Basen. Die russische Furcht, dass Russland eingekreist sei, ist durch nichts zu unterfüttern. In der russischen Wahrnehmung mag das anders sein und bekanntlich ist Wahrnehmung die Basis für Handlung. Aber nirgends steht die NATO vor Russland. Der Kreml zieht stattdessen jedes NATO-Manöver als Beleg heran, doch Manöver macht Russland genauso.

Aber müssen diese Manöver vor Russland denn sein?

Das ist ein Teil der Abschreckung. Wir wissen nicht, wie es im Jahr 2014 ausgegangen wäre, wenn sich die NATO nach der Krim-Besetzung nicht auf die Ausrufung eines Bündnisfalls vorbereitet hätte. Dann wären die baltischen Staaten vielleicht keine unabhängigen Staaten mehr.

Braucht es eine allgemein robustere Sicherheitspolitik Deutschlands? Muss Berlin stärker als bislang auf Abschreckung setzen?

Meines Erachtens schon. Deutschland ist die größte militärische europäische Streitmacht im Rahmen der NATO und die größte Streitmacht ohne Atomwaffen innerhalb der NATO. Damit geht eine Verantwortung einher. Diese nicht zu übernehmen, ist ein Signal an die Verbündeten in Osteuropa, aber auch an Moskau.

Definiert sich diese Abschreckungsfähigkeit zwingend daran, dass Deutschland zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts auf die Bundeswehr verwendet, wie Berlin einmal der NATO zugesagt hat?

Abschreckungsfähigkeit definiert sich anhand von Ausrüstung und anhand von readyness, also Vorbereitung und der Bereitschaft, zu handeln. Das Zwei-Prozent-Ziel ist problematisch, weil abgesehen von einem Forschungsanteil von 20 Prozent nicht festgelegt ist, wofür diese Summe ausgegeben werden soll. Das Zwei-Prozent-Ziel ist kein Merkmal der readyness, dafür braucht es Ausbildung, Übung und Gerät.

Welche Rolle spielt die nukleare Teilhabe, die zwischen den Parteien einer Ampelregierung ebenfalls umstritten ist? Deutschland müsste hierfür Nachfolger des Tornado-Jets beschaffen, die US-Atomwaffen ins Ziel tragen können.

Die nukleare Teilhabe ist ein Faktor der Abschreckung, weil sie eine Verbindung herstellt zwischen den in den USA stationierten strategischen Atomwaffen und den in Europa gelagerten taktischen Atomwaffen. Die Ampel täte sehr gut daran, sich um einen Tornado-Nachfolger zu bemühen, denn ein Ende der nuklearen teilhabe würde das gesamte Nuklearsystem der NATO auf den Kopf stellen.


Das Gespräch mit Carlo Masala führte Sebastian Huld

Quelle: ntv.de

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