Die SPD ist russlandfreundlich, und sie will die Absatzchancen der Wirtschaft in China nicht schmälern. Die Grünen verachten seit ihren Anfängen die Leisetreterei der Sozialdemokraten und den billigen Selbstbetrug, wie er in der Formel «Wandel durch Handel» zum Ausdruck kommt.
Thema des Tages: Der grüne Idealismus in der Aussenpolitik passt nicht zur instabilen Welt von heute
Versteht Aussenpolitik als Weltinnenpolitik: Deutschlands neue Aussenministerin Annalena Baerbock.
Michael Sohn / AP
Niemand soll später sagen, er sei nicht gewarnt worden. Noch bevor sie ihren Amtseid abgelegt hatte, verkündete Annalena Baerbock ihre aussenpolitischen Grundsätze. «Ich verstehe Aussenpolitik als Weltinnenpolitik», sagte sie der «TAZ». Der Satz birgt Sprengstoff.
Wenn in der Innenpolitik die üblichen Mechanismen des Ausgleichs versagen, wird die Auseinandersetzung schnell hart und scharf. Beobachten lässt sich dies in Amerika, wo sich Demokraten und Republikaner unversöhnlich gegenüberstehen. Die Endstufe ist der Bürgerkrieg, in dem so lange gekämpft wird, bis eine Partei den totalen Sieg erringt.
Aussenpolitik hingegen funktioniert anders. Auch über die tiefsten ideologischen Gräben hinweg arbeiteten der Westen und die Sowjetunion zusammen. Möglich war dies, weil man der Gegenseite ein Existenzrecht zuerkannte. Man respektierte die territoriale Integrität und mischte sich nur in Massen in die inneren Belange des Kontrahenten ein.
In der Innenpolitik geht es ums Rechthaben, um die Gestaltung der Gesellschaft nach den eigenen politischen Grundsätzen. In der Aussenpolitik geht es darum, einen Krieg zu vermeiden. Wer die beiden Sphären leichtfertig vermischt, nimmt in Kauf, dass das Rechthaben wichtiger wird als die Bewahrung des Friedens.
Oder weniger apodiktisch formuliert: Wer einen anderen Staat nach seinen Vorstellungen zu formen versucht, ist zum Konflikt bereit. Präsident George Bush wollte aus dem Irak eine arabische Musterdemokratie machen. Er liess amerikanische Truppen einmarschieren.
Womit wir wieder bei Annalena Baerbock wären. Für sie ist «eine wertegeleitete Aussenpolitik immer ein Zusammenspiel von Dialog und Härte». Um die Menschenrechtsverletzungen Pekings anzuprangern, plädiert sie für die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas.
Dazu gehört ein Boykott von Waren aus der Provinz Xinjiang, «wo Zwangsarbeit gängige Praxis ist». Auch einen Boykott der Olympischen Winterspiele in China schliesst Baerbock nicht aus. Von Angela Merkels vorsichtiger Chinapolitik grenzt sich die neue Aussenministerin ab. «Beredtes Schweigen ist auf Dauer keine Form von Diplomatie, auch wenn das in den letzten Jahren von manchen so gesehen wurde.»
In der Ukraine wird sich zeigen, was von dem Idealismus übrig bleibt
Wenn ihre Äusserungen mehr als unbedachte Worte einer aussenpolitischen Anfängerin sind, will Baerbock Deutschland auf einen gefährlichen Weg führen. Denn die Welt, durch die Baerbock Deutschland navigieren soll, ist nicht mehr die liberale Weltordnung, in welcher der Westen dominierte und seine Werte meist problemlos durchsetzen konnte.
Baerbocks Welt sieht anders aus. Der Konflikt zwischen den USA und China eskaliert. China provoziert nicht mehr nur im Südchinesischen Meer, sondern auch in der Taiwan-Frage. Washington revanchiert sich, indem es China einzukreisen versucht – unter anderem durch eine neue pazifische Allianz mit Australien und Grossbritannien.
Wladimir Putin spielt mit dem Feuer, indem er Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammenzieht. Er fordert Sicherheitsgarantien für Russland und verlangt, dass die Nato die russische Hegemonie über ein Gebiet von der polnischen Grenze bis zum Kaspischen Meer anerkennt. Sein Druckmittel ist die unverhohlene Drohung mit einem Krieg gegen Kiew.
Die Welt der zwanziger Jahre ist ein unbehauster Ort, weshalb es für Deutschland zwei absolute Prioritäten gibt: die Sicherung des Friedens und die Wahrung seiner politischen und wirtschaftlichen Interessen. Die beiden Forderungen stehen in Konkurrenz zueinander, was Berlin in den nächsten Jahren zu einigen unangenehmen Entscheidungen zwingen wird.
Für eine wertegeleitete Aussenpolitik und die Durchsetzung westlicher Vorstellungen von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit wird deutlich weniger Raum bleiben als in der goldenen Ära nach dem Fall der Berliner Mauer. Die Welt hat sich verändert, aber das Auswärtige Amt macht unter der neuen Leitung Politik für die alte Welt.
Die Grünen und ihre Aussenministerin gehören zu den letzten Mohikanern, die sich an der Idee der liberalen Weltordnung festklammern, jenem mit Werten und Waffen gleichermassen betriebenen Feldzug für Demokratie und Marktwirtschaft. Annalena Baerbock als unfreiwillige Erbin von George Bush: Die Geschichte hält manches Paradox bereit.
Die erste Bewährungsprobe für sie und die deutsche Aussenpolitik ist die von Putin angezettelte Ukraine-Krise. Wie kann die Bundesrepublik Kiew unterstützen? Während Washington der Ukraine modernste Waffen liefert, schliesst Berlin dies kategorisch aus.
Die Ampelkoalition einigte sich sogar darauf, die Rüstungsexporte weiter einzuschränken. Nachgiebigkeit gegenüber Russland hat sich jedoch noch nie ausgezahlt. Weil Putin kalkulierte, dass der EU der Kaukasus keinen Konflikt wert ist, führte er 2008 Krieg gegen Georgien. Waffenlieferungen an die Ukraine wären ein Signal, dass es die EU diesmal ernst meint.
Mehr als abzuschrecken und den Preis für Moskau hochzutreiben, können Deutschland und die Europäische Union nicht tun. Sollte Russland angreifen, wird die Nato die Ukraine nicht verteidigen, schliesslich gehört diese dem Bündnis nicht an. Moskau muss aber für diesen noch immer unwahrscheinlichen Fall fürchten, dass der Westen es nicht bei den üblichen und ziemlich zahnlosen Wirtschaftssanktionen belässt.
Berlin sollte seinen Teil dazu beitragen, die westliche Entschlossenheit zu demonstrieren. Waffenlieferungen wären ein Baustein, um die ukrainische Selbstverteidigung zu stärken. Das zu akzeptieren, würde die Grünen Überwindung kosten.
Statt Plädoyers für Menschenrechte Realpolitik mit Waffen – sind die pazifistischen Grünen dazu bereit? In den Kosovo-Krieg zogen sie nur, weil Joschka Fischer eine überlebensgrosse idealistische Kulisse aufbaute, gespickt mit NS-Geschichte und Schuldgefühlen: Ein Völkermord an den Albanern musste verhindert werden, um einen anderen, einen deutschen Völkermord zu exorzieren.
Der Gaspipeline Nord Stream 2 die Betriebsgenehmigung zu verweigern, wäre ein anderer Baustein einer Ukraine-Strategie. Das kommt für die SPD nicht infrage. Wie gesagt, die zwanziger Jahre halten für Deutschland unangenehme Entscheidungen bereit.
Berlin versteht sich auf Selbstblockade
In der Auseinandersetzung um die Ukraine geht es nicht um abstrakte Werte, sondern um handfeste Interessen. Wenn sich Putin durchsetzt, sind die beiden wichtigsten westlichen Institutionen – die Nato und die EU – geschwächt; die baltischen Staaten müssen um ihre Integrität fürchten; und osteuropäische Staaten mit schwankender Loyalität wie Ungarn würden noch näher an Russland heranrücken.
Das wäre eine tiefe Zäsur und der sichtbarste Beweis dafür, dass die Mischung aus amerikanischer Hegemonie, westlichen Ordnungsvorstellungen und europäischem Idealismus sogar in Europa selbst an ihr Ende gelangt ist.
Wenn Aussenpolitik tatsächlich Weltinnenpolitik wäre, gäbe es dagegen nur ein Mittel: maximalen Druck, um sich gegenüber Russland durchzusetzen, so wie man sich eben in der innenpolitischen Arena durchzusetzen versucht. Die «Methode Baerbock» birgt aber unabsehbare Risiken, weshalb sie keine Option ist.
In der Aussenpolitik haben letztlich Frieden, Stabilität und eine von allen akzeptierte Ordnung Vorrang vor anderen Faktoren. Deshalb lautet die Aufgabe, Russland abzuschrecken und zugleich eine unkontrollierbare Eskalation zu vermeiden.
Das aber gelingt allenfalls mit nüchternem Realismus, nicht mit flammender Rhetorik für eine Weltinnenpolitik und Gratismut in Interviews. Jetzt muss Baerbock zeigen, was in ihr steckt. Der Kanzler hat schon klargemacht, dass er von Olympiaboykott und Sanktionen gegen Nord Stream 2 wenig hält. Die Scholz-Linie sieht der Merkel-Linie zum Verwechseln ähnlich.
Die Aussenministerin hat also wenig Gestaltungsspielraum. Sie wollte schon einmal ganz hoch hinaus und landete dann auf dem letzten Rang der drei Kanzlerkandidaten, noch hinter Armin Laschet. Wenn sie auch in der neuen Position vor allem ankündigt und wenig liefert, nimmt ihre Reputation endgültig Schaden. Sie muss sich gegen Scholz profilieren.
In einer Zeit, in der Deutschland mehr denn je gebraucht wird, um Europas Interessen zu vertreten, dürften sich die Koalitionspartner blockieren. Die SPD ist russlandfreundlich, und sie will die Absatzchancen der Wirtschaft in China nicht schmälern. Die Grünen verachten seit ihren Anfängen die Leisetreterei der Sozialdemokraten und den billigen Selbstbetrug, wie er in der Formel «Wandel durch Handel» zum Ausdruck kommt.
Statt Führungsstärke in Europa ist eher Stagnation zu erwarten. Nichts Neues also in Berlin, denn auch in der Vergangenheit vermieden es Kanzleramt und Auswärtiges Amt, Akzente zu setzen. Das wiederum ist das eigentlich Deprimierende an der deutschen Aussenpolitik.
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