Michael Roth über Ukraine-Krise
"Die Gefahr einer Invasion ist nicht gebannt"
30.01.2022, 07:01 UhrUkrainische Soldaten in der Region Lwiw.
(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth, erklärt im ausführlichen ntv.de-Interview, welche Angebote der Westen unterbreiten könnte, um Russland von einer militärischen Eskalation abzuhalten.. Die Kritik seines Parteikollegen Gerhard Schröder an der Ukraine und der deutschen Außenministerin hält Roth für verfehlt.
Herr Roth, wir haben zuletzt vor sechs Wochen miteinander über den Russland-Ukraine-Konflikt gesprochen? Ist ein Krieg in Europa seither wahrscheinlicher geworden?
Die Gefahr einer militärischen Invasion in der Ukraine ist nicht gebannt. Nach wie vor sind über 100.000 gefechtsbereite russische Soldaten an der Grenze zur Ukraine stationiert. Aktuell verlegt Russland auch Truppen nach Belarus, es findet also faktisch eine militärische Einkreisung der Ukraine statt. Was mich weiter hoffen lässt, sind die Gespräche, die derzeit auf allen Ebenen geführt werden. Endlich reden wir wieder miteinander statt nur übereinander. Das ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Dennoch bleibt die Lage brandgefährlich.
Wer sind auf westlicher Seite die maßgeblichen Akteure in dieser Situation?
Wir erleben gerade ein sehr hohes Maß an Ge- und Entschlossenheit in der Europäischen Union und mit den USA. Das ist schon ein großer Wert an sich. Natürlich kommen Deutschland und Frankreich eine ganz besondere Verantwortung zu: Die Wiederbelebung des Normandie-Formats, in dem Russland und die Ukraine unter Vermittlung von Frankreich und Deutschland miteinander verhandeln, ist alles andere als selbstverständlich. Jetzt hoffe ich, dass wir von der Beraterebene alsbald auch wieder zur politischen Ebene kommen.
Moskau hatte sich bis zum Normandie-Treffen vor allem auf Gespräche mit den USA konzentriert und Europa, insbesondere die EU, außenvorgelassen. Sehen Sie das Risiko, dass die europäische Sicherheitsordnung zwischen Moskau und Biden verhandelt wird, und Europa nur die Zuschauerrolle bleibt?
Die Zusammenarbeit zwischen Washington, der NATO, der Europäischen Union ist sehr eng und vertrauensvoll. Auch die Erwiderung der USA auf den Forderungskatalog der russischen Seite ist in Abstimmung mit den Partnern erfolgt. Dieses Teamspiel ist ein starkes Signal gegenüber Russland und anderen autoritären Regimen, die immer wieder versucht haben, die EU zu spalten. Denn die Uneinigkeit des Westens würde am Ende nur einem nutzen - nämlich Wladimir Putin.
Aber die EU tritt nicht als geeinter Akteur auf, ihre Vertreter wie der Außenbeauftragte Josep Borrell sitzen bestenfalls am Katzentisch, wenn die Großen reden. Müsste Borrell nicht immer dabei sein, wenn im Normandie-Format gesprochen wird oder die deutsche Außenministerin nach Moskau reist?
Die Europäische Union leidet unter ihrem schwachen und nicht geschlossenen Auftreten der Vergangenheit. Aber Deutschland und Frankreich verhandeln im Normandie-Format ja auch für die Europäische Union. Ich erwarte von den Regierungen beider Länder, dass sie die EU-Partner sehr, sehr eng einbinden - insbesondere die mittel- und osteuropäischen Staaten, aber selbstverständlich auch den Hohen Repräsentanten und den Europäischen Auswärtigen Dienst. Am Verhandlungstisch sitzen wir nicht allein für uns, sondern für die gesamte EU.
Ist das eine erste Bewährungsprobe für die Ampelregierung, die auch versprochen hat, die europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu stärken?
Selbstverständlich, das ist ein ganz, ganz wichtiges Element. Europäische Ostpolitik bedeutet, sich in in die Wahrnehmung und in das Denken unserer Partner hineinzuversetzen. Sie setzt voraus, dass wir die Sicherheitsinteressen dieser Länder stets einbeziehen, sonst kann kein Vertrauen wachsen. Ein Land wie Polen ist mehrfach von der Landkarte verschwunden, weil Preußen und Russland, die Sowjetunion und das Deutsche Reich schlimme Deals abgeschlossen haben. Und: Für uns in Deutschland ist der 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung von der Nazidiktatur mit dem Ende des Krieges und des Holocausts verbunden. Aber für die mittel- und osteuropäischen Staaten folgte auf einen furchtbaren Vernichtungskrieg eine weitere Diktatur, nämlich der Stalinismus. Das hat sich tief eingegraben.
Gerade in der SPD hat der Russland-Fokus ein Stück weit Tradition. Waren die östlichen EU-Staaten und die Länder der östlichen Partnerschaft dadurch zu oft aus dem Blick Ihrer Partei geraten?
Es ist ja kein Fehler, einen Fokus auf Russland zu haben, im Gegenteil. Das ist ein großes Land, das eine zentrale Rolle spielt auf der internationalen Bühne. Mittelfristig werden wir keine der großen globalen Bewährungsproben ohne Russland lösen können, deshalb müssen wir miteinander im Gespräch bleiben. Aber wenn viele ihren Blick auf das östliche Europa richten, wird das häufig mit Russland gleichgesetzt. Doch Russland ist eben nicht der einzige Nachfolgestaat der Sowjetunion. Wenn wir aus historischer Verantwortung argumentieren, dann gilt das ebenso für die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion wie die Ukraine oder die baltischen Staaten. Mir scheint, dass es hierzulande insgesamt zu wenig Interesse und Empathie gegenüber den Staaten Osteuropas gibt. Deshalb lautet meine Botschaft: Go East!
Woher rührt diese deutsche Fixierung auf Moskau?
Es gab lange eine besondere Beziehung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion. Das gründete darauf, dass grünes Licht aus Moskau immer die Voraussetzung für alle Fortschritte und Verbesserungen war, die wir im Rahmen der Entspannungspolitik erlebt haben. Aber diese zentrale Rolle von Moskau gibt es so natürlich nicht mehr. Über die Zukunft der Ukraine oder von anderen Staaten, die mal zum sogenannten Ostblock gehört haben, entscheiden heute diese Völker und Staaten selbst.
Die russische Regierung erzwingt Gespräche mit einer unverhohlenen Gewaltandrohung. Müsste nicht aus Prinzip die Antwort darauf lauten: erst Rückzug, dann Gespräche?
Dialogbereitschaft und Wehrhaftigkeit sind zwei Seiten derselben Medaille. Ziel der Gespräche ist eine politische Lösung des aktuellen Konflikts. Aber man muss dabei auch immer auf die schmerzhaften Konsequenzen hinweisen, die eine weitere militärische Eskalation Russlands gegenüber der Ukraine hätte. Russland muss klar sein, dass der politische und wirtschaftliche Preis einer Invasion sehr, sehr hoch wäre. Und weil wir im Fall der Fälle nicht militärisch eingreifen wollen - das war die klare Ansage der USA, der NATO und der Europäischen Union - muss man alle anderen Instrumente prüfen und notfalls auch nutzen. Darüber reden wir mit unseren Partnern momentan sehr vertraulich. Es würde Putin nur helfen, wenn wir jetzt eine öffentliche Auseinandersetzung über das Für und Wider einzelner Sanktionen führen.
Die SPD schließt Konsequenzen für Nord Stream 2 nicht mehr aus und CDU-Chef Merz schließt einen Ausschluss vom Zahlungssystem SWIFT nicht mehr aus. Die Peitsche liegt damit auf dem Tisch. Wie könnte das Zuckerbrot aussehen?
Die NATO und die USA haben Vorschläge unterbreitet im Hinblick auf Vertrauensbildung und engere Zusammenarbeit. Dem sollten weitere konkrete Angebote folgen, etwa im Bereich der Rüstungskontrolle und der Abrüstung. Wir müssen den INF-Vertrag über das Verbot atomarer Mittelstreckenraketen wieder in Kraft setzen. Wir sollten auch intensiv verhandeln über Kurzstreckenraketen, die vermutlich auch in Kaliningrad stationiert sind und uns in Deutschland oder auch Polen unmittelbar bedrohen. Wir sollten darüber reden, wie wir die vorhandenen Dialogformate mit Russland stärken, beispielsweise die OSZE oder den Nato-Russland-Rat. Dazu kommt, dass sich beide Seiten wieder klar zu dem bekennen, was wir miteinander verabredet haben: zur NATO-Russland-Grundakte von 1997. Für die NATO bedeutet das, dass wir keine Atomwaffen im Osten stationieren und dort auch nicht dauerhaft NATO-Soldaten stationieren. Für Russland bedeutet das, die Souveränität, die territoriale Integrität sowie die freie Bündniswahl von Staaten anzuerkennen.
Aber im Rahmen der Forward Presence ist die Bundeswehr zusammen mit anderen NATO-Truppen an der russischen Grenze stationiert. Ist das verhandelbar?
Die Forward Presence ist die Folge der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland gewesen. Mit diesem Tabubruch haben wir uns ja nicht arrangiert. Die an der Ostflanke der NATO in begrenzter Zahl eingesetzten Soldatinnen und Soldaten sind dort nicht dauerhaft stationiert. Und sie tragen dem Sicherheitsbedürfnis unserer Partner Rechnung. Ich kann nicht über die Köpfe der Partner im Baltikum oder auch in Polen hinweg einseitig Angebote unterbreiten. Aber selbstverständlich wünsche ich mir eine Situation, in der wir wieder weniger über militärische Präsenz sprechen können. Aber das setzt voraus, dass Russland seinen aggressiven Kurs in der Region beendet.
Wladimir Putin möchte eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine verhindern. Das widerspricht der Bündnisfreiheit souveräner Staaten, aber die ebenfalls souveränen NATO-Mitgliedstaaten müssen die Ukraine nicht aufnehmen.
Wir haben sehr enge Beziehungen zwischen der Ukraine und der NATO, aber es ist trotz des ukrainischen Wunsches bislang noch nicht zu einer Aufnahme in das Bündnis gekommen. Dazu gehört auch - und das ist das zynische Spiel von Herrn Putin -, dass die NATO nur Staaten aufnimmt, die innerstaatlich gefestigt sind. Durch die von Russland betriebene Destabilisierung im Osten der Ukraine ist das nach wie vor ungeklärt.
Welche Perspektive kann der Westen der Ukraine anstelle der NATO-Mitgliedschaft aufzeigen?
Die EU hat mit der Östlichen Partnerschaft maßgeschneiderte Angebote für die Ukraine, Georgien, Moldau, Belarus, Armenien und Aserbaidschan entwickelt. Sie werden aber in der Ukraine oder Georgien bisweilen nur als zweitklassig empfunden, weil die Europäische Union bislang eine Beitrittsperspektive für die Staaten des östlichen Europas ausgeschlossen hat - im Gegensatz zum westlichen Balkan. Ich wäre sehr dafür, dass die Europäische Union auch hier sagt: Unsere Türen werden sich öffnen, wenn ihr Teil dieser einzigartigen Werte-, Wirtschafts- und Friedensgemeinschaft werden wollt. Das ist natürlich ein langer Weg und derzeit sehe ich auch darüber in der EU noch keinen Konsens. Aber diese Staaten brauchen dieses Signal - auch als Motor für innerstaatliche Reformen.
Der frühere sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder hat am Freitag für Aufsehen gesorgt, als er der Ukraine Säbelrasseln vorwarf, die Bundesaußenministerin Baerbock für ihren Besuch in Kiew kritisierte und die Bedrohung der Ukraine durch Russland in Abrede stellte. Wie bewerten Sie diese Aussagen?
Ich halte mich da lieber an die Fakten. Und die lassen doch keine Zweifel zu, wer die Verantwortung für die aktuelle militärische Eskalation trägt: Wenn 100.000 gefechtsbereite russische Soldaten die Ukraine militärisch einkreisen, dann ist das eine ganz konkrete Bedrohung. Menschen, die das klar benennen und davor warnen, sind doch keine Kriegstreiber. Ich habe vollstes Verständnis für das Schutz- und Verteidigungsinteresse der Ukraine, das hat mit Säbelrasseln nichts zu tun. Und ich bin der Außenministerin sehr dankbar, dass sie nach Kiew gereist ist, um ein klares Signal zu setzen: Deutschland steht fest an der Seite der Ukraine.
Muss die SPD stärker auf Distanz gehen zu Russland-Lobbyisten wie Schröder oder dem früheren niedersächsischen Landesgeschäftsführer Heino Wiese?
Ich erlebe vor allem ganz viele junge Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die ein großes Interesse an einer neuen europäischen Ostpolitik haben, die mehr über die Zivilgesellschaft sprechen; die daran erinnern, was die Prinzipien von Willy Brandt waren: Niemals darf Gewalt gegenüber Staaten angedroht oder angewendet werden und Grenzen sind in Europa unverletzbar. Daher würde ich diese gar nicht mehr in Amt und Würden befindlichen ehemaligen Repräsentanten der Sozialdemokratie nicht überbewerten wollen. Der Bundeskanzler und die SPD-Vorsitzenden haben unsere sozialdemokratische Position doch deutlich gemacht.
Aber in den Partnerländern sind wegen solcher Stimmen aus den Reihen der Regierungspartei SPD und ihrem Festhalten an Nord Stream 2 Befürchtungen gewachsen, die neue Bundesregierung könnte einen moderateren Kurs gegenüber Russland einschlagen.
Ich teile diese diese Angst nicht, aber auch ich nehme natürlich wahr, dass es bei unseren Partnern durchaus Sorgen über die Zuverlässigkeit Deutschlands gibt, vor allem in den Ländern Mittel- und Osteuropas. Das nehme ich auch deshalb ernst, weil Nationalisten und Populisten in manchen Ländern versuchen, ein sehr Deutschland-kritisches Bild zu zeichnen. Wir sollten denen nicht auch noch Futter liefern. Deshalb erwarte ich, dass die Bundesregierung die deutsche Haltung klar und nachvollziehbar erklärt.
Betrifft das die Debatte über Waffenlieferungen an die Ukraine?
Wir müssen anerkennen, dass es bei unseren östlichen Partnern diese konkrete Angst vor einer militärischen Bedrohung durch Russland gibt. Deswegen müssen wir besonders gut begründen, warum wir keine letalen Waffen in die Ukraine liefern. Das war ja auch unter der Merkel-Regierung und unter den Vorgängerregierungen so, dass Deutschland grundsätzlich keine Waffen in Krisenregionen liefert. Es wird gelegentlich der Eindruck erweckt, als würden wir jetzt eine 180-Grad-Wende vollziehen. Nein, wir befinden uns in dieser Frage in einer deutschen Kontinuität, unsere Rüstungsexportpolitik war schon immer sehr restriktiv. Was mich traurig stimmt, ist, dass in dieser sehr einseitigen Debatte um Waffenlieferungen oftmals vergessen wird, welch wichtigen Beitrag Deutschland leistet, um der Ukraine beim Aufbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu helfen, auch bei der Schaffung von Jobs, beim Umweltschutz und bei der Bekämpfung der Korruption. Die Diskussion macht es ja auch Freundinnen und Freunden der Ukrainer - zu denen ich mich zähle - nicht ganz leicht.
Was folgt daraus für den Umgang mit der ukrainischen Regierung?
Ich rate unter Freunden zu einer Gesprächskultur, die Kontroverses nicht ausspart, aber hinter verschlossenen Türen Lösungen zu finden versucht. Sicher stehen der Kanzler als auch die Außenministerin in einem engen Austausch mit der ukrainischen Regierung, wie und womit wir am besten und schnellsten helfen können.
Das Gespräch mit Michael Roth führte Sebastian Huld.
Quelle: ntv.de
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