Wo einst der Traum von ukrainischer Unabhängigkeit platzte, zeigt sich heute ein starker Widerstandsgeist gegenüber Russland
Viele Ukrainer fühlen sich wie ein Spielball im Machtkampf zwischen Russland und dem Westen. Nicht zum ersten Mal sind sie in dieser Situation: Die Ereignisse von Poltawa vor drei Jahrhunderten sind ein Schlüssel zum Verständnis dafür, was Russen und Ukrainer trennt.
Der Runde Platz von Poltawa ist das Zentrum und Wahrzeichen der Stadt. Die Säule in der Mitte erinnert an Russlands militärischen Triumph im Jahr 1709.
Wie sehr die Geschichte das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland belastet, zeigt sich an kaum einem Ort so gut wie in Poltawa. Hier errang Zar Peter der Grosse 1709 einen glänzenden Sieg über die Armee des Schwedenkönigs Karl XII. und demonstrierte damit ganz Europa, dass mit Russland zu rechnen war. Der Erfolg im Grossen Nordischen Krieg verwandelte das international bis dahin kaum beachtete Zarenreich zu einer europäischen Grossmacht. Passend dazu bezeichnete es sich von nun an als Kaiserreich. Nach der Schlacht von Poltawa liess Peter der Grosse Ehrenmedaillen prägen, die ihn mit Lorbeerkranz zeigten, wie einen römischen Imperator.
Zar Peter der Grosse (erkennbar am grünen Mantel) mitten im Kampfgetümmel – so hat sich der französische Historienmaler Pierre-Denis Martin im Auftrag des Zaren die Schlacht von Poltawa vorgestellt.
Putin und die «Wiedervereinigung»
Wenig überraschend hat auch der russische Präsident Wladimir Putin, der sich wohl selbst als bedeutender Mehrer des russischen Reiches sieht, Bezug auf Poltawa genommen. In einem vielbeachteten Aufsatz von letztem Sommer konstruierte er nicht nur eine äusserst fragwürdige völkische Einheit von Russen und Ukrainern; er machte auch klar, dass er grosse Teile der Ukraine als historisch russische Ländereien betrachtet. Poltawa und weitere Regionen seien dank der Schlacht mit dem Hauptteil des russischen Volkes «wiedervereinigt» worden, schrieb er. Es besteht wenig Zweifel daran, dass Putin die Ukraine wieder in Moskaus Einflusszone eingliedern möchte, um Russlands Stellung als Grossmacht abzusichern.
Aus ukrainischer Sicht präsentiert sich dies völlig anders. «Brudervölker? Das ist doch längst ein Schimpfwort geworden!», sagt der Schriftsteller und Reservist Witali Sapeka bei einem Gespräch in Poltawa verächtlich. Sapeka meldete sich nach der russischen Militärintervention im Donbass 2014 wie Tausende andere Ukrainer freiwillig zum Militärdienst. Als er wegen seines vorgerückten Alters nicht genommen wurde, schloss er sich einem Freiwilligenbataillon an, lernte dort den Umgang mit Waffen und diente über Jahre hinweg im Kriegsgebiet. Die Aussicht auf einen Grossangriff Russlands in den nächsten Monaten beeindruckt ihn nicht. «Ich würde mit Vergnügen nochmals an die Front fahren und Russen töten», hält er fest.
Auf etwas subtilere Weise wird der russische Grossmachtanspruch im Stadtbild von Poltawa zurückgewiesen. Zwar ragt auf dem Hauptplatz im Zentrum der 300 000 Einwohner zählenden Stadt noch immer die Ruhmessäule empor, ein zum 100. Jahrestag der Schlacht errichtetes Denkmal, gekrönt von einem goldenen russischen Reichsadler. Doch ukrainische Patrioten haben dem Adler eigenmächtig die blau-gelbe ukrainische Staatsflagge aufgesetzt und obendrein die schwarz-rote Fahne der radikalen Nationalbewegung. Jedes Mal, wenn die Stadtverwaltung diese Symbole aus «denkmalschützerischen» Gründen entfernen liess, montierten die Aktivisten die Fahnen von neuem.
Verräter oder Staatsmann?
Perfekt wird der Widerspruch, wenn man sich auf den mit Glatteis überzogenen Trottoirs noch einige hundert Meter weiter durchschlägt und in einer winterlichen Parkanlage unvermittelt vor einem zweiten Denkmal steht. Grimmig schaut hier seit 2016 Iwan Masepa vom Sockel herunter, der ukrainische Kosakenführer, der in der Schlacht von Poltawa gemeinsam mit den Schweden auf der Verliererseite stand.
Das Denkmal für den Kosakenführer Iwan Masepa im Zentrum von Poltawa.
Ein Denkmal für Masepa – das wäre in der Zaren- und der Sowjetzeit undenkbar gewesen. Der ukrainische Staatsmann galt damals als Inbegriff des Verräters. Der Dichter Alexander Puschkin und der Komponist Pjotr Tschaikowsky prägten mit ihren Werken das Bild eines Schurken, mit dem Generationen von Russen und Ukrainern aufwuchsen. Auch Putin hatte in seinem erwähnten Aufsatz nur Verachtung für den Kosakenführer übrig.
Doch für den jungen ukrainischen Staat ist Masepa eine wichtige Identifikationsfigur. Er war der gewählte Führer eines im 17. und 18. Jahrhundert existierenden Staatswesens, des Kosaken-Hetmanats, das als Vorläufer der heutigen Ukraine gelten kann. Kosaken waren Kampfverbände, die sich durch die Ansiedlung von geflohenen Leibeigenen in der Region gebildet hatten. In den schwer kontrollierbaren Gebieten zwischen Polen, dem Osmanischen Reich und Russland bewahrten sie lange Zeit erfolgreich ihre Freiheiten. Masepas umstrittener Seitenwechsel – weg von einer Allianz mit Moskau und hin zu Schweden – kann als Versuch betrachtet werden, seinen Staat vor der zunehmenden Vereinnahmung durch Russland zu schützen.
Verwundet und militärisch vernichtend geschlagen: Dem Schwedenkönig Karl bleibt nur noch die Flucht, begleitet vom Kosakenführer Masepa (mit Federhut). Gemälde von Gustaf Cederström aus den 1880er Jahren.
Triumph für die einen, Katastrophe für die anderen
Der Vorwurf des Verrates sei nicht stichhaltig, argumentiert Wita Harmasch, die Konservatorin des Schlachtmuseums von Poltawa. Masepa habe keine andere Wahl gehabt, als mit Schweden zu paktieren. Denn zum einen habe der Zar die Freiheiten des Hetmanats beschnitten, zum andern habe sich unter den Kosaken der Unmut über die Kriegsdienste aufseiten Russlands angestaut. Russland habe zudem jegliche Hilfe gegen den Vorstoss der Schweden in die Ukraine verweigert.
Die Schlacht von Poltawa nimmt somit im historischen Bewusstsein Russlands wie auch der Ukraine eine zentrale Rolle ein. Doch die Deutungen könnten nicht unterschiedlicher sein. Während der Kreml den Triumph Peters des Grossen vor Augen hat und von Wiedervereinigung spricht, ist Poltawa für die Ukraine gleichbedeutend mit einer Katastrophe, die den Niedergang des Hetmanats und Jahrhunderte der Unterdrückung einläutete.
Nach und nach wird das noch aus der Sowjetzeit stammende Schlachtmuseum ukrainisch-nationalen Vorstellungen angepasst. Die Statue Peters des Grossen vor dem Eingang bleibt zwar unangetastet, aber seit kurzem hängt im Innern ein grosses Gemälde Masepas. Es zeigt den Verlierer der Schlacht im Habitus eines kultivierten europäischen Staatsmannes. Angefügt wurde ein neuer Saal, in dem zehn grossrussische Mythen über die Schlacht zerpflückt werden. Viele dieser Mythen seien bereits von Peter dem Grossen gezielt in Umlauf gebracht worden, sagt Wita Harmasch. «Schon damals gab es so etwas wie einen Informationskrieg, und heute flammt er erst recht wieder auf.»
Iwan Masepa – aus russischer Sicht der Inbegriff eines Verräters – ziert heute die 10-Hrywna-Banknote der Ukraine.
Auch Russland zieht Parallelen zwischen damals und heute. Als der schwedische Verteidigungsminister Peter Hultqvist kürzlich für den Ausbau der militärischen Ausbildungsmission seines Landes in der Ukraine eintrat, reagierte die russische Botschaft in Stockholm mit einem bitterbösen Kommentar und einer Anspielung auf die vernichtende Niederlage Karls XII.: Hultqvist sei nicht der erste schwedische Militärführer, der versuche, Russland mit der Macht seiner heldenhaften Armee einzuschüchtern, schrieb die Botschaft sarkastisch. Doch offensichtlich haben die Schweden die Lektion der Schlacht von Poltawa nicht beherzigt.
Russland dürfte hingegen nicht entgangen sein, dass die Ukrainer ihre Lehren gezogen haben. Ihre Verbundenheit mit dem eigenen Staat ist gross; die Rhetorik von der Volksgemeinschaft mit den Russen fällt auch in Poltawa auf unfruchtbaren Boden. «Wir werden uns nicht ergeben», sagt der Geophysiker Wiktor Schtscherbanjuk, der im Donbass-Krieg zeitweise eine Panzerkompanie kommandierte. «Klar, Moskau will die Sowjetunion wieder errichten. Aber es ist zu viel Zeit vergangen.» Dreissig Jahre Unabhängigkeit der Ukraine bedeuteten, dass eine völlig neue Generation herangewachsen sei, welche die Sowjetunion nicht mehr erlebt habe. Falls sich Russland zu einer Invasion entschliesse, werde die grosse Mehrheit der Bevölkerung Poltawas die Okkupation ablehnen, sagt Schtscherbanjuk.
Gelassenheit gegenüber der Kriegsgefahr
Wie viele Ukrainer sich in einem solchen Szenario an einem Partisanenkrieg beteiligen würden, wie es der eingangs zitierte Schriftsteller-Soldat Witali Sapeka gelobt, ist schwierig zu sagen. Aber Grundlagen für einen Guerillakampf legt nun auch der Staat mit gewissen Vorbereitungen. Die meisten Einwohner Poltawas scheinen allerdings nicht mit einem Krieg zu rechnen.
Spricht man in den windgepeitschten Strassen Passanten darauf an, so lautet die häufigste Antwort, es werde schon nicht so weit kommen. Ja, sie habe die Nachrichten verfolgt, aber Sorgen mache sie sich keine, sagt eine junge Mutter. Eine Mittfünfzigerin meint, das seien doch alles nur politische Spielchen. Eher etwas nachdenklich wirkt ein Musikstudent, dessen Name seit kurzem auf der Mobilisierungsliste steht. Aber auch er hält einen Grossangriff für recht unwahrscheinlich.
Der deutsche Schriftsteller Christoph Brumme, der seit vielen Jahren in Poltawa lebt, beobachtet dasselbe. «Es sprengt die Vorstellungskraft der Leute, dass es eine Invasion geben könnte.» Dabei habe Putin seine Brutalität genügend bewiesen, in Tschetschenien oder später in Syrien, wo Russlands Luftwaffe gezielt Spitäler bombardiert habe. Anders als die meisten Ukrainer trifft Brumme Vorkehrungen, um notfalls rasch die Flucht antreten zu können. Seien die wenigen Brücken über den Fluss Dnipro einmal gesprengt, werde es kein Durchkommen nach Westen mehr geben.
Von solchen trüben Gedanken ist im festlich geschmückten Stadtzentrum nichts zu spüren – die orthodoxe Weihnachtszeit mitsamt ihrem fröhlichen Jahrmarktstreiben dauerte bis Mitte dieser Woche. Auch die Lokalpolitik pflegt ihr übliches Hickhack. Poltawas Bürgermeister wäre Ende Dezember beinahe gestürzt worden. Nachdem er in einem prorussischen Fernsehsender Moskauer Propagandasätze nachgeplappert hatte, stimmte die Mehrheit der Stadtparlamentarier für seine Absetzung. Da sie knapp die notwendige Zweidrittelmehrheit verfehlten, konnte der vor allem bei Rentnern und Staatsangestellten beliebte Bürgermeister sein Amt behalten.
Gleichwohl zeigte der Fall: Wer in der Ukraine Sympathien für Russland zeigt, riskiert politisch Kopf und Kragen.
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