Nun muss ein Journalist nicht für alles Verständnis haben. Aber er sollte alles verstehen – oder sich zumindest darum bemühen. Der Perspektivwechsel lohnt, auch und vielleicht gerade vor der martialischen Drohkulisse der russischen Armee. Hier die fünf Motive, die dazu geführt haben dürften, dass der russische Präsident uns auf diese archaische Art mitteilt: Bis hierher und nicht weiter. 1. Die NATO hat sich seit der Implosion der Sowjetunion um weitere 14 Mitglieder auf nun 30 Staaten mit insgesamt 945 Millionen Einwohnern und 25 Millionen Quadratkilometern Fläche ausgedehnt. Die Osterweiterung war die größte Landnahme des westlichen Verteidigungsbündnisses – ohne, dass ein einziger Schuss gefallen wäre. Moskau grummelte, aber wehrte sich nicht. |
2. „Die Sicherheit aller Staaten in der euro-atlantischen Gemeinschaft ist unteilbar“, heißt es in der Erklärung des Nato-Russland-Rates von 2002, dem Russland angehört. Doch dieser Terminus von der Unteilbarkeit der europäischen Sicherheit wurde nie gelebt. Es gab für keinen der NATO-Erweiterungs-Schritte eine Konsultation mit der russischen Seite. Der Westen handelte bewusst einseitig. Es galt die Maxime: Alles ist teilbar. Auch die Sicherheit. |
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3. Die nächsten logischen Schritte der Osterweiterung wären die NATO-Mitgliedschaften von Finnland und Schweden; selbst die der Ukraine ist formell nicht ausgeschlossen. Damit würden die letzten Pufferstaaten im Vorhof der Russischen Föderation in die Hände des westlichen Militärbündnisses fallen. Die NATO könnte ihre atomaren Kurzstreckenraketen 500 Kilometer von Moskau entfernt in Stellung bringen. |
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In einer vergleichbaren Situation, der von den Russen geplanten Atomwaffen-Stationierung auf Kuba, hat US-Präsident John F. Kennedy im Oktober 1962 mit der Kubakrise, die im Ultimatum per Seeblockade gipfelte, einen dritten Weltkrieg riskiert: |
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Die Russen drehten bei. |
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4. Die Ukraine ist nicht nur Opfer in diesem Konflikt, sondern auch Täter. Der in den Minsker Abkommen I. und II. verabredete Souveränitätsverzicht der Ukraine für die Gebiete Donezk und Luhansk wurde bis heute nicht umgesetzt. Am 12. Februar 2015 unterzeichneten Deutschland, Frankreich, Russland und die Ukraine einen „Maßnahmenkomplex zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen“, womit sich die Ukraine verpflichtet, den beiden Regionen – beide mit einem hohen Anteil russischer Wohnbevölkerung ausgestattet – einen „Special Status“ einzuräumen. Doch der Präsident der Ukrainer fürchtet (wahrscheinlich zu Recht), dass ihn das parlamentarische Prozedere für die Umsetzung dieser Zusagen den Job kosten könnte. Also verweigert er die Umsetzung der gemachten Zusagen. Putin ging in Minsk leer aus. |
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5. Die politische Elite in Washington glaubte, nach 1990 auf Russland keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen. Der ehemalige Planungs-Chef das Pentagon Francis Fukuyama schrieb sein berühmtes Buch „Vom Ende der Geschichte“, für viele die Bibel einer neuen Zeit. Nach 1990 waren Republikaner und Demokraten im Triumphalismus vereint. Barack Obama rief das „pazifische Zeitalter“ aus und stufte Russland zur „Regionalmacht“ zurück. Fazit: Auf Seiten des Westens ist jetzt nicht die Fortsetzung der Empörungspolitik gefragt, sondern strategische Klugheit. Die russische Drohkulisse und die völkerrechtswidrige Besetzung der Krim müssen nicht den Auftakt eines europäischen Krieges bedeuten. Der Beginn einer diplomatischen Offensive wäre allen bekömmlicher. Putin braucht, was die EU auch benötigt: einen neuen Vertrag über die Sicherheit im Europa des 21. Jahrhunderts. Vieles kann man abwählen, ablehnen oder sogar bekämpfen. Seine Geographie nicht. |
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