Thema der Woche: In der Strategie des Kreml ist die Ukraine nur ein Element
Thema der Woche: In der Strategie des Kreml ist die Ukraine nur ein Element
Russlands Präsident Wladimir Putin.
Alexey Nikolsky / Sputnik / Kremlin / EPA
An den Fakten besteht kein Zweifel. Die Satellitenbilder zeigen Flugzeuge, Panzer, Raketenwerfer und Radarstellungen – das ganze für eine Invasion nötige Gerät. Satelliten geben jedoch keinen Aufschluss über Putins Motive.
Auch die US-Nachrichtendienste können hier nur spekulieren. Das hinderte sie nicht daran, die Welt mit Meldungen über einen bevorstehenden Krieg zu erschrecken. Seit den Warnungen vor Saddam Husseins Vernichtungswaffen steht es allerdings mit der Glaubwürdigkeit des politisch-nachrichtendienstlichen Komplexes in Amerika nicht zum Besten. Washington hat ein bisschen zu oft gelogen.
Selbst wenn sich Russland zurückzieht, wie es behauptet, bleiben die Absichten hinter der in Osteuropa seit Hitlers Überfall auf die Sowjetunion präzedenzlosen Truppenkonzentration von zentraler Bedeutung. Vermutlich helfen hier aber Aufnahmen aus 36 000 Kilometern Höhe weniger als Überlegungen, welche Geostrategen bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts anstellten.
Damals stand die eurasische Landmasse, der aus Europa und Asien bestehende Superkontinent, im Zentrum des Interesses. Wer diesen kontrolliere, beherrsche die Welt, behauptete der Geograf Halford Mackinder. Seit China zur Aufholjagd angesetzt hat, ist Eurasien noch wichtiger geworden. Hier leben fünf Milliarden Menschen, die zwei Drittel des globalen Bruttoinlandproduktes erwirtschaften. Trotz den Distanzen wachsen die Volkswirtschaften in Europa und Asien zusammen.
Mehr noch als vor hundert Jahren gilt heute der Satz: Wer den Superkontinent kontrolliert, beherrscht die Welt. Das gibt dem von seiner postsowjetischen Schwäche genesenen Russland neue Chancen.
Russland hat einen einzigartigen geografischen Vorteil
Putin will, daran bestehen keine Zweifel, Russland einen Platz als Grossmacht neben den USA und China verschaffen. Wie aber soll das gehen? Amerika und China sind Russland wirtschaftlich weit überlegen. Washington verfügt zudem über ein weltweites Netz von Alliierten und Truppenstützpunkten. Peking rüstet in einem Mass auf, das die Modernisierung der russischen Streitkräfte weit in den Schatten stellt.
Der Kreml kann da nicht mithalten, und als enge Verbündete hat er auch nur Staaten wie Weissrussland, Armenien und Kasachstan. Nur bei Atomwaffen spielt er noch in der ersten Liga. Denkbar schlechte Voraussetzungen also für Putins Traum, seine Amtszeit mit der Wiederherstellung sowjetischer Grösse zu krönen. Russland ist jedoch das einzige ganz Eurasien umspannende Land, von der polnischen Grenze bis zum hintersten Zipfel Sibiriens.
Russlands Schicksal ist seine Geografie. Putin scheint entschlossen, diesen Umstand zu seinem Vorteil zu nutzen. Er unterstrich den Anspruch Russlands, eine asiatische Macht zu sein, selbstbewusst bei seinem Auftritt mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping zum Auftakt der Olympischen Spiele.
Um wirklich auftrumpfen zu können, braucht der Kreml die Ukraine und eine Einflusssphäre im Westen. Denn eine starke europäische Macht ist Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion nicht mehr. Mit der weissrussischen und der ukrainischen Unabhängigkeit wurde Moskau auf die Grenzen zurückgeworfen, die der russische Rumpfstaat innehatte, als er sich nach Iwan dem Schrecklichen auf den langen Weg zum Imperium begab.
Weissrussland ist längst wieder ein Vasallenstaat. Moskau wird nie mehr seine Truppen abziehen, die es jetzt unter dem Vorwand eines Manövers in Weissrussland stationierte. Russland bedroht so die Nato, die auf dem Landweg ihre baltischen Mitglieder nur durch einen schmalen Korridor zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und Weissrussland erreicht. Diese Lebensader kann Moskau jederzeit durchtrennen.
Im modernen Krieg ist Waffengewalt nur ein Mittel
Der Hauptpreis ist und bleibt Kiew, das politische und spirituelle Zentrum des alten Russland. Mit den westlichen, einst zur Donaumonarchie gehörigen Landesteilen liegt die Ukraine in Mitteleuropa. Die Zaren gründeten das heute ukrainische Odessa, um das Schwarze Meer zu beherrschen und den Zugang zum Mittelmeer zu sichern. Dessen Ufer befinden sich wieder im russischen Einflussbereich, seit Moskau mit Soldaten und Söldnern in Syrien, Libyen und Mali operiert.
Die Krim hat sich Russland schon einverleibt. Sichert sich Moskau die Hegemonie über die restliche Ukraine, wäre es die unangefochtene Vormacht im Schwarzen Meer. Ein Albtraum für die Nato-Mitglieder Bulgarien, Rumänien und Türkei.
Ohne Russlands Segen ginge dann wenig im Kaukasus und am Kaspischen Meer. Diese Bruchzone – halb Europa, halb asiatische Steppe – ist ebenfalls ein eurasischer Hotspot von eminenter Bedeutung. Hier wird Öl und Gas gefördert, hier verlaufen wichtige Pipelines. Nur wer die einzelnen Punkte verbindet, sieht das ganze Bild.
Die Ukraine, der Kaukasus oder die Levante: Für Putin kann das Schachbrett nicht gross genug sein, er hat seine Figuren überall platziert. Die Europäer und zunehmend auch die USA denken kurzfristig und wenig strategisch. So heisst es in Berlin oder Washington, ein Krieg müsse verhindert werden, als stünde Europa am Vorabend der Münchner Konferenz von 1938.
Auch wenn Russland nicht in die Ukraine einfällt, bleibt das zentrale Problem ungelöst. Moskau will Kiew botmässig machen, um eine Rolle als eurasische Grossmacht zu spielen. Putin möchte nun einmal nicht im östlichen Vorhof von Nato und EU versauern. Dafür braucht er keinen Krieg, mindestens keinen klassischen mit Kanonendonner und Panzerschlachten.
Was Moskau in den letzten Wochen inszeniert hat, gehört zum Drehbuch des modernen Krieges: Militärisches Muskelspiel, Propaganda im Fernsehen und Internet, Cyberattacken und diplomatische Manöver sind Teil der hybriden Kampfführung. Diese will den Willen des Gegners brechen, ohne diesen zu töten. Physische Gewalt ist nur ein Mittel in dem Arsenal.
Moskau ist nicht unangreifbar
Zugleich bedeutet dies, dass auch ohne konventionellen Krieg die hybriden Angriffe nicht verebben, solange Putin nicht an sein Ziel gelangt. Er wird erst aufhören, wenn die ukrainische Führung eine als gute Beziehungen getarnte Vormundschaft akzeptiert.
Eines hat die Ukraine gewiss gelernt: Aus dem Westen naht keine Rettung. Will sie Ruhe finden, muss sie die russische Hoheit über die abtrünnigen Donbass-Gebiete und die Krim anerkennen. Das hat Putin mit seinem Powerplay brutal klargestellt, und deshalb hat sich für ihn sein hoher Einsatz bereits gelohnt.
Ein konventioneller Krieg würde hingegen Russlands Ressourcen bis ans Limit beanspruchen, vor allem könnte er das sorgfältig arrangierte Schachbrett durcheinanderbringen. Alles andere als ein Blitzsieg würde Moskau schwächen. Das Bündnis mit China ist noch mehr Wunsch als Realität, ohnehin sieht Peking Russland als Juniorpartner.
Selbst Regionalmächte wie die Türkei setzen sich erfolgreich gegen den Kreml durch. So musste Moskau nach dem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im Jahr 2020 hinnehmen, dass es den Frieden gemeinsam mit Ankara überwacht. Früher hätte Russland Kämpfe im Kaukasus nach seinem Gutdünken für beendet erklärt.
In der kaukasisch-kaspischen Bruchzone haben sich Gewichte verschoben. Aserbaidschan ist mit dem Rohstoff-Boom reich und stark geworden und spannt mit der Türkei zusammen. Im Krieg gegen Armenien zerstörte es mit in Israel gekauften Drohnen russische Flugabwehrstellungen. Dank der aserbaidschanischen Pipeline-Diplomatie öffnet sich für Zentralasien, einst traditioneller Hinterhof Russlands, das Tor nach Westen.
Russland wird also an vielen Fronten herausgefordert. Eine kluge westliche Politik nutzt das aus, statt sich allein auf die Ukraine zu konzentrieren. Moskau muss überall Gegendruck spüren. Dazu wären die EU und die Nato allerdings gezwungen, mit anrüchigen Partnern zusammenzuarbeiten, indem sie etwa das Verhältnis zur Türkei reparieren und Aserbaidschan unterstützen.
Im Krieg im Jahr 2020 versuchte Washington noch, Israel von Waffenlieferungen an Aserbaidschan abzubringen, weil dessen Menschenrechtsbilanz lausig ist. Um sein Potenzial auszuschöpfen, müsste der Westen seine wertegeleitete Aussenpolitik relativieren. Ob sich dafür Mehrheiten finden?
Putin hat dieses Dilemma erkannt und glaubt deshalb, den Westen unter Wert schlagen zu können. Er verfolgt sein geopolitisches Kalkül mit eisernem Realismus und einem strategischen Ziel. Das Schachspiel um die Dominanz in Eurasien hat erst begonnen
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