Grund zwei der Empörung aber ist ein höchst fragwürdiger: Die politische Klasse – in Washington, in London, in Paris und auch in Berlin – will mit der mittlerweile hundertfach wiederholten Aussage von „Putins Krieg“ und der Klassifizierung des russischen Präsidenten als Mörder, als Irren, als Wahnsinnigen von ihrer Mitverantwortung beim Zustandekommen jener Verhältnisse ablenken, die zu diesem Krieg geführt haben. Es bleibt sein Krieg. Aber es sind auch ihre Verhältnisse. Verstehen heißt nicht, Verständnis haben. Aber der Regierungspolitiker wird nicht für seine Entrüstungsbereitschaft bezahlt, sondern für seine Fähigkeit, widerstreitende Interessen als solche zu erkennen und für friedlichen Ausgleich zu sorgen. Er ist nicht der Vater, der um das Kind in den Flammen weint. Er ist der Feuerwehrmann auf der Leiter, der das Kind aus den Flammen rettet. Und der gute Politiker ist im besten Falle sogar der Experte für Brandschutz, der bereits im Vorfeld die nötigen Sicherungen einbaut - den Sprinkler und die Alarmanlage. Auf dass die Flammen keine Chance haben. |
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Genau an dieser vorausschauenden Russlandpolitik hat es gefehlt. Als Kronzeuge für das kollektive und fortgesetzte Nichtverstehen der russischen Seite durch das westliche Spitzenpersonal sei hier Henry Kissinger in den Zeugenstand gerufen. Er hatte schon nach der Besetzung der Krim durch die Putin-Armee gewarnt, die Komplexität des russisch-ukrainischen Konflikts zu unterschätzen und zu meinen, man könnte die Ukrainer ohne Konsequenzen für die Machtarchitektur in Europa in den westlichen Block eingemeinden. Kissinger am 6. März 2014 in der „Washington Post“: |
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Und dann formulierte er jene Zumutung, die die europäische Seite für sich niemals angenommen hat: |
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Eine kluge US-Politik, so meinte Kissinger, sollte eine Versöhnung anstreben, auch die zwischen der Ukraine und seinem großen östlichen Nachbarn. Er riet Putin damals ab, seine Armee neuerlich in Marsch zu setzen, weil er diesen Rechtsbruch mit der finalen Isolation bezahlen würde. Und er riet den Amerikanern davon ab, Putin zu verteufeln. Hillary Clinton hatte ihn mit Adolf Hitler verglichen und damit versucht, innenpolitisch zu punkten. Kissinger hält in seinem Aufsatz dagegen: |
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Putin sei „ein ernstzunehmender Stratege – unter den Prämissen der russischen Geschichte“. Amerikanische Werte und Psychologie zu verstehen, sei allerdings nicht seine Stärke. So wie umgekehrt gelte: |
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Er riet den führenden Politikern aller Seiten, sich wieder auf das Produzieren von Ergebnissen zu konzentrieren, anstatt sich in emotionalen Posen zu ergehen. Natürlich verteidigte Henry Kissinger das Recht der Ukrainer auf ihre eigene staatliche Souveränität. Aber er machte eine wichtige Einschränkung: |
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Eine „institutionelle Feindschaft gegenüber Russland“ sei in Anerkennung der Geschichte und der geographischen Nähe unbedingt zu vermeiden. Käme es zu keiner Lösung zwischen der Ukraine und Russland, werde sich „das Abdriften in Richtung Konfrontation beschleunigen“. Es kam genau so, wie Kissinger es vorhergesagt hatte. Jede Seite versuchte, ihre maximale Position durchzusetzen. Das Publikum erlebte Politik als Pose, und eben nicht als Kunst des Interessenausgleichs. Das Abdriften in die Konfrontation begann. Putin versteifte sich auf seine Weltsicht. Als ihm niemand mehr zuhörte, sprach er schließlich nur noch mit seinem Geheimdienstchef, seinem Generalstab und ganz ausführlich mit sich selbst. Das Ergebnis ist ein Gewaltausbruch, wie ihn Europa seit dem Jugoslawienkrieg nicht mehr erlebt hat. |
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Der Westen merkte nicht, wie Russlands mächtigster Mann zu driften begann, obwohl dieser Konflikt sich nahezu über eine Dekade aufgebaut hat. Nach der Krim-Besetzung hat man sich empört – und ist dann zur Tagesordnung zurückgekehrt. Einen Geostrategen hat es im Weißen Haus und im Bundeskanzleramt lange nicht mehr gegeben. Trump wusste nicht, wie man das Wort buchstabiert. Angela Merkel dachte nicht vom Ende her, sondern regierte von einem Moment zum nächsten. Kissinger, der mittlerweile 98 Jahre alt ist und sich zum aktuellen Krieg in Europa noch nicht geäußert hat, war zeitlebens ein Konservativer, aber kein Scharfmacher. Er war flexibel, aber nie beliebig. Er war ein Mann der westlichen Werte, und er war – auch nach der für ihn prägenden Erfahrung des westlichen Scheiterns im Vietnamkrieg – nicht bereit, die Idee der Freiheit mit dem Eifer des Missionars und dann auch mit durchgeladener Pistole zu verbreiten. Sein Lieblingswort hatte er aus dem Deutschen in das Amerikanische importiert: Realpolitik. Seine Begründung sollte heute über jedem Politiker-Schreibtisch hängen: |
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Den gesamten Artikel von Kissinger über die Ukraine können sie hier lese |
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