Donnerstag, 10. März 2022

Zwei Gründe machen die Lage des Kremls noch prekärer. Zum einen hat sich Russlands Militär vor der Weltöffentlichkeit blamiert. Das sorgsam aufgebaute Image einer durch Reformen modernisierten, agilen und gut geführten Armee erweist sich als Fata Morgana. Zwar ist die Gefahr einer weitgehenden Besetzung der Ukraine nicht gebannt. Aber die Invasionstruppen erleiden hohe Verluste, wirken konzeptlos gegen einen aus dem Hinterhalt angreifenden Gegner und haben die Zivilbevölkerung mit dem skrupellosen Beschuss von Wohngebieten für immer gegen sich aufgebracht. Die Armeeführung begeht auf strategischer und taktischer Ebene so viele Fehler, dass ihr Prestige auf Jahre hinaus Schaden genommen hat. Damit zerplatzt ein für Putins Regime zentraler Mythos.

 

Thema der Woche: Wladimir der Zerstörer – Putins Krieg reisst nicht nur die Ukraine in den Abgrund, sondern auch Russland
Die zerstörte Brücke von Irpin bei Kiew ist zu einem Sinnbild der von Russland herbeigeführten Katastrophe in der Ukraine geworden.
Felipe Dana / AP
Innerhalb von zwei Wochen hat Russlands starker Mann zerstört, was er in mehr als zwei Jahrzehnten aufgebaut hatte. Als der damalige Geheimdienstchef Wladimir Putin 1999 an die Regierungsspitze aufstieg, fand er ein Land in der «Smuta» vor, in einer Zeit der Wirren.
Wirtschaftlich war Russland nach dem Kollaps des Rubels zum Schreckgespenst der Investoren geworden. Politisch befand es sich in der Krise, da die vom kranken Präsidenten Boris Jelzin geführte Zentralregierung zum Spielball von machthungrigen Provinzfürsten und raffgierigen Oligarchen geworden war. Militärisch hatte sich Russland mit dem Debakel im ersten Tschetschenienkrieg zum Gespött gemacht. Wenn jemand Moskaus Arsenale noch fürchtete, so nur wegen der Gefahr, dass die Atomwaffen des maroden Staates in falsche Hände geraten könnten.
Putin und seine Seilschaften aus den Geheimdiensten räumten auf, systematisch, erbarmungslos. In kurzer Zeit stellten sie die Kreml-Macht auf eine neue, tragfähige Basis. Ein unausgesprochener Gesellschaftsvertrag lautete, dass der Staat im Tausch gegen eine autoritäre Herrschaft für steigenden Wohlstand aller sorgen würde – zuallererst natürlich der korrupten Führungselite, aber auch der einfachen Rentner.
Das bisherige Modell ist gescheitert
Als mit der Finanzkrise von 2008 eine bis heute andauernde Zeit der wirtschaftlichen Stagnation anbrach, suchte sich das Putin-Regime eine zusätzliche Legitimation: Fortan sicherte es seine Popularität mit einem immer radikaleren Grossmachtkult. Es konstruierte den Westen als imaginären Feind, schob die wirtschaftlichen Härten auf die Arglist der Amerikaner ab und präsentierte sich dem Volk als Bollwerk gegen die Zerstückelung und den kulturellen Niedergang Russlands.
Die Einverleibung der Krim, der spektakuläre Feldzug in Syrien und die Entwicklung immer neuer «Wunderwaffen» schienen zu beweisen, dass Russland seinen Platz im Konzert der Grossmächte zurückerobert hatte. Derweil verpasste sich die Hauptstadt Moskau dank sprudelnden Rohstoffeinnahmen ein modernes Gesicht – klinisch gesäubert zwar von lästigen Demonstranten, aber effizient organisiert und mit allen westlichen Konsumgütern, die Russlands Oberschichten begehrten.
Mit dem Überfall auf die Ukraine kommt diese Entwicklung zu einem abrupten Ende. Wie ein Hasardeur hat Putin einen wesentlichen Teil des bisherigen Gesellschaftsvertrags aufgekündigt. Er stellt damit auch die Grundlagen seiner eigenen Herrschaft infrage. Wirtschaftlich und kulturell verschwindet Russland wieder hinter einem eisernen Vorhang – fast wie zur Sowjetzeit.
Dass sich Sinnbilder westlicher Konsumkultur wie McDonald’s, Starbucks oder Ikea verflüchtigen, hat zwar nur symbolische Bedeutung. Es dürfte vor allem jene Schichten schockieren, die mit ihrem urbanen Lebensstil dem herrschenden Regime ohnehin fernstanden. Aber der Exodus westlicher Investoren, die Sanktionen gegen Russlands Zentralbank, das Ausbleiben strategisch wichtiger Güter von Software bis Hochtechnologie und die nun eingeleitete Abkoppelung des Westens von russischer Energie werden das Land ärmer machen – und damit das gesamte Volk schmerzhaft treffen.
Zentrale Mythen lösen sich auf
Über Jahre nährte Putin die Sowjetnostalgie, schon kurz nach seiner Machtübernahme sang das Land wieder die Melodie der Stalinschen Nationalhymne. Doch nun erhält das Volk jäh auch einige der unliebsamen Erinnerungen an die kommunistische Zeit zurück. Ferienreisen ins Ausland können sich Russinnen und Russen vorerst aus dem Kopf schlagen, ausser sie wollen die Errungenschaften des Realsozialismus im benachbarten Weissrussland besichtigen. Dollars darf man von seinem Fremdwährungskonto nur noch in begrenzten Mengen abheben. Den einheimischen Medien ist es bei Strafandrohung verboten, die Wahrheit über den Krieg zu berichten.
Verloren geht mit dem faktischen Austritt aus dem Europarat ein weiterer postsowjetischer Fortschritt – die Möglichkeit, sein Recht vor dem Strassburger Menschenrechtsgerichtshof durchzusetzen. In manchen Bereichen ist Russlands Isolation heute gar stärker als zur Sowjetzeit. Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges durften russische Sportler an internationalen Wettkämpfen teilnehmen; heute werden sie wie Aussätzige behandelt.
Zwei Gründe machen die Lage des Kremls noch prekärer. Zum einen hat sich Russlands Militär vor der Weltöffentlichkeit blamiert. Das sorgsam aufgebaute Image einer durch Reformen modernisierten, agilen und gut geführten Armee erweist sich als Fata Morgana. Zwar ist die Gefahr einer weitgehenden Besetzung der Ukraine nicht gebannt. Aber die Invasionstruppen erleiden hohe Verluste, wirken konzeptlos gegen einen aus dem Hinterhalt angreifenden Gegner und haben die Zivilbevölkerung mit dem skrupellosen Beschuss von Wohngebieten für immer gegen sich aufgebracht. Die Armeeführung begeht auf strategischer und taktischer Ebene so viele Fehler, dass ihr Prestige auf Jahre hinaus Schaden genommen hat. Damit zerplatzt ein für Putins Regime zentraler Mythos.
Zum anderen wird dem russischen Volk eher früher als später bewusst werden, dass das Vertrauen in die Urteilskraft seines «Zaren» übertrieben war. Putins Ansehen beruhte stets auch darauf, dass er kluge Entschlossenheit ausstrahlte. Er ist kein Tattergreis wie die letzten Sowjetführer und kein Trunkenbold wie sein Vorgänger Jelzin, sondern argumentiert messerscharf. Trotzdem erweist sich seine Entscheidung zum Krieg bereits jetzt als katastrophaler Fehler. Diese Realität lässt sich längerfristig selbst durch Propaganda nicht vernebeln, sie wird in die Gesellschaft einsickern. Damit werden Zweifel aufkommen, ob Putin seiner Aufgabe noch gewachsen ist.
Rational, aber fehlgeleitet
Eine geschwächte Urteilsfähigkeit ist jedoch nicht mit Wahnsinn zu verwechseln, wie dies manche im Westen tun. Putin sollte weiterhin als rational handelnder Akteur betrachtet werden. Seine fatale Entscheidung erfolgte vermutlich auf der Grundlage von fünf Einschätzungen. Er stufte das eigene Militär als hoch überlegen ein. Den durch Parteienkämpfe und Korruption geschwächten ukrainischen Staat betrachtet er als blosses Kartenhaus. Auch rechnete er – angesichts der Pseudosanktionen der EU nach der Krim-Annexion und des amerikanischen Debakels in Afghanistan – mit einer kraftlosen Reaktion des Westens. Zudem ging er davon aus, dass die russische Wirtschaft genügend «sanktionsresistent» sei und dass sein Repressionsapparat mit allfälligen Protesten spielend fertig würde.
Das ist ein durchaus rationales Kalkül. Nur wurde es dadurch getrübt, dass sich Putin in seiner Selbstisolation offensichtlich kein realistisches Bild der Lage mehr machen kann und von seinen willfährigen Untergebenen mit geschönten Informationen gefüttert wird. Den Widerstandsgeist der ukrainischen Nation hätte man problemlos erkennen können, doch im Kreml waren entweder alle Berater Opfer der eigenen Propaganda geworden, oder es traute sich niemand mehr, dem Chef die Wahrheit zu sagen.
Dass dies nun geschieht oder jemand mit oder gegen Putin plötzlich das Steuer herumreisst, dürfte Wunschdenken sein. Am ehesten wären Kräfte aus dem Sicherheitsapparat in der Lage, Putin zu entmachten. Doch sie sind selber zutiefst in die Kriegspolitik verstrickt und Teil des korrupten Systems. Wer einen Putsch anstösst, nimmt nicht nur das Risiko eines Scheiterns auf sich, sondern auch die Gefahr, bei einem Zusammenbruch des Regimes selber zu den Verlierern zu gehören.
Unterschätzt wird auch das Dilemma der sogenannten Oligarchen. Diese Magnaten erleiden nun zwar enorme Verluste, aber sie sind für ihr wirtschaftliches Überleben weiterhin auf die Gunst des Kremls angewiesen. Auch die breite Bevölkerung verhält sich vorerst verständlicherweise apathisch. Die Staatspropaganda wirkt, und mit 14 000 Festnahmen bei Antikriegsprotesten zeigt der Repressionsapparat routiniert seine Muskeln.
Mahnrufe aus der Vergangenheit
Vorerst scheint Putin daher einigermassen fest im Sattel zu sitzen. Trotzdem ist ein jähes Ende seiner Herrschaft eine reale Möglichkeit und nicht mehr eine blosse Phantasie von Oppositionellen. Allein schon die Geschichte sollte dem Kreml ein Memento sein. Putin inszeniert sich gerne als oberster Historiker der Nation und hat in dieser Rolle etwa die ukrainische Eigenstaatlichkeit als Irrweg der Geschichte dargestellt. Doch eine Lektion scheint er völlig übersehen zu haben: Verlorene Kriege gaben in Russland stets Impulse zu tiefgreifenden Umwälzungen.
Nach dem desaströsen Krimkrieg von 1853 bis 1856, der Russlands Rückständigkeit offenbarte, sah sich der neue Zar Alexander II. gezwungen, eine umfassende Modernisierung von Wirtschaft, Gesellschaft und Armee einzuleiten. Das vom Ersten Weltkrieg verursachte Elend führte 1917 zum Sturz der Monarchie und zur Machtübernahme der Kommunisten. Die Demütigung im Afghanistankrieg der 1980er Jahre wiederum war einer der Faktoren, die den Kollaps der Sowjetunion beschleunigten.
Putin sollte also gewarnt sein – aber auch die Welt. Der jetzige Krieg wird unabhängig von seinem Ausgang Erschütterungen auslösen, die weit über die Ukraine hinausreiche

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