Weisband über russisches TV
"In Talkshows wird diskutiert, wie ein Atomkrieg ablaufen könnte"
10.04.2022, 16:49 UhrDie deutsch-ukrainische Publizistin Marina Weisband warnt davor, Wladimir Putins Ankündigungen nicht ernst zu nehmen. Wie das russische Fernsehen die Bevölkerung auf die Großmachtpläne des Präsidenten einstimmt, beobachtet sie schon seit Jahren.
ntv.de: Sie sind in Kiew geboren, mit Russisch als Muttersprache aufgewachsen. Welchen Blick haben Sie auf diesen Krieg?
Marina Weisband: Derzeit informiere ich mich in vier Sprachen über den Konflikt - auf russisch, ukrainisch, deutsch und englisch. Dadurch versuche ich, die verschiedenen Perspektiven zusammenzubringen und einzuordnen. Ich denke auf Russisch und habe die ukrainische Sprache erlernt. Lange Zeit hatte ich noch eine Wohnung in Kiew, die Familie meiner Mutter lebt dort immer noch.
Was erfahren Sie aus der russischen Perspektive von diesem Krieg?
Die Propagandamaschine ist unglaublich stark, das bekomme ich aktiv schon seit 2013 mit. Ich war damals auf dem Maidan in Kiew bei den Protesten. Ich hatte direkt vor Augen, was dort passierte, und habe gleichzeitig die russische Presse gelesen. Das waren schon damals verschiedene Welten, und es hält seitdem an. Oft habe ich versucht, das in deutschen Medien zu thematisieren, habe gesagt, "Leute, die sprechen dort in Russland die ganze Zeit über Krieg. Sie sprechen über Krieg auch mit Europa, mit dem Westen".
Wer spricht?
Zum Beispiel Expertenrunden im Fernsehen. Es ist in den vergangenen Jahren völlig normal gewesen, abends in einer Talkshow zu diskutieren, wie man das Baltikum einnehmen könnte oder wie ein Atomkrieg ablaufen könnte.
Muss man sich eine russische Talkshow anders vorstellen als die im deutschen Fernsehen?
Äußerlich nicht. Das sieht genauso aus wie bei Anne Will. Da sind Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, Ideologen, Propagandisten, das, was sich dort "Journalist" nennt, und die diskutieren miteinander. Man muss sich dann nur vorstellen, wie Anne Will sagen würde: "Guten Abend, unser Thema an diesem Sonntag: Sollte Polen ein eigenständiges Land sein?"
Das wäre im russischen Fernsehen eine normale Fragestellung?
Ja, und so etwas dient dazu, die Bevölkerung vorzubereiten. Ich war jahrelang irritiert, dass das im Westen weder wahr- noch ernstgenommen wurde. Elf Millionen Russen haben Verwandte in der Ukraine, die ihnen erzählen, was dort passiert. Und sie glauben trotzdem ihrem Fernseher mehr.
Das setzt aber auch eine Bereitschaft voraus, sich belügen zu lassen, oder?
Die Menschen in Russland glauben dem Fernsehen einerseits, weil seit mindestens acht Jahren die Propaganda so omnipräsent ist. Andererseits, weil sie die Lügen tatsächlich auch glauben wollen. Denn wenn Putin ein Kriegsverbrecher wäre, dann müssten sie ja irgendetwas dagegen tun! Dann wäre er ja nicht der Garant ihrer Stabilität, kein großartiger Präsident und das Land kein großartiges Land.
Zunächst hieß es, die Zustimmung für diesen Krieg sei in Russland viel niedriger als 2014 bei der Annexion der Krim. Nach letzten Umfragen aus Russland nimmt die Unterstützung jedoch zu, liegt nun bei über 80 Prozent. Hat Putin gerade einen richtigen Lauf?
Auf jeden Fall, das entspricht meiner Wahrnehmung. In Kriegszeiten scharen sich die Menschen um den Anführer, ebenso in Krisenzeiten. Die Russen unterstützen diesen Krieg größtenteils, wir müssen da keine Revolution erwarten, die wird nicht stattfinden.
Was könnte in Russland denn passieren, um den Krieg zu beenden?
Eine Möglichkeit, die ich sehe, wäre eine Art Putsch von oben, von den Siloviki, den "starken Männern". Das sind nicht die Oligarchen. Die sind zwar reich, aber haben wenig politischen Einfluss.
Weil sie zu abhängig sind von Putin?
Im Wesentlichen ist der Deal für die Oligarchen: Sie kriegen Positionen in Schlüsselunternehmen und verdienen sich eine goldene Nase, solange sie sich nicht in Politik einmischen. Die Siloviki hingegen sind die Träger des politischen Apparats, Putins alte Petersburger Clique - einige Minister, die Chefs der Geheimdienste. Diese Menschen haben die theoretische Möglichkeit, Putin abzusägen. Man kann versuchen, ihnen das Leben so unbequem wie möglich zu machen, damit sie das tun.
Sehen Sie weitere Handlungsoptionen?
Man erhöht den Preis des Krieges für Putin derart, dass es ihm unmöglich erscheint, sowohl diesen Krieg als auch den russischen Staat weiter zu führen. Dafür wären zweierlei Dinge nötig: Erstens, das Herz seiner Wirtschaft zu treffen, und das sind Energieexporte. Zweitens, die Ukraine massivst mit Waffen zu versorgen. Für beides gilt: Je früher, desto besser. Und je stärker, desto besser.
Ein Gegenargument ist die Strategie, sich Handlungsoptionen offenzuhalten, Spielraum zur Eskalation also, anstatt sofort alle Trümpfe zu ziehen.
Da frage ich: Wofür brauchen wir noch Eskalationsspielraum? Was soll nach Butscha noch passieren?
Ihr Parteikollege Robert Habeck lehnt ein Energieembargo ab und sagt "Wir verfolgen ja eine Strategie, uns unabhängig von russischem Gas, von Kohle, vom Öl zu machen, nur eben nicht sofort". Fürchtet er zu Unrecht, dass unsere Versorgungssicherheit durch einen Exportstopp für Gas gefährdet sein könnte?
Wir sprechen nicht davon, dass wir das Gas dauerhaft abdrehen müssen. Wir sprechen von einer kurzen, massiven Sanktion, deren Beendigung wir zum Beispiel an die Bedingung knüpfen könnten, dass es einen Waffenstillstand in der Ukraine gibt. Im schlimmsten Fall rechnen Ökonomen beim Bruttoinlandsprodukt mit einem Minus von drei bis fünf Prozent. Das wäre doof für uns, das will ich gar nicht leugnen. Für einige wäre das sogar sehr schlimm und manche würden ihre Arbeit verlieren.
Die Warnungen aus der chemischen Industrie klingen dramatisch. Sie ist auf Gas angewiesen und gleichzeitig Zulieferer für die verarbeitenden Industrien, für die Herstellung von Pharmazeutika, E-Batterien, Baumaterial….
Derzeit profitiert die Chemieindustrie extrem von billigem russischen Gas. Die Unternehmen haben ihr gesamtes Wirtschaftsmodell darauf aufgebaut, dass sie billiges Gas importieren. Davon profitieren sie, während die Sicherheitskosten von der Gesellschaft getragen werden. Ein großes Problem der deutschen Wirtschaft ist: Unsere Produkte kosten im Handel nicht den Preis, den sie tatsächlich kosten. Sie sind künstlich billig gemacht, und es werden hohe Dividenden ausgezahlt, während die Gesellschaft die Kosten für Sicherheit, Klima, Freiheit und dergleichen trägt. Dass wir in dieser Abhängigkeit von Russland sind, dafür ist die Chemieindustrie ganz stark mitverantwortlich.
In dieser Analyse würde Ihnen Robert Habeck vermutlich zustimmen. Trotzdem warnt er vor einem schnellen Embargo.
Wir nehmen es als gegeben hin, dass mögliche finanzielle Einbußen der chemischen Industrie automatisch in eine Massenarbeitslosigkeit umschlagen würden, bevor irgendjemand fragt: Wie ist es denn mit der Gewinnmarge? Wie ist es mit den Dividenden? Die werden zuerst ausgezahlt, und danach schaut der Konzern, wie viele Arbeiter er halten kann.
Einen gewissen Verlust an Arbeitsplätzen müsste man aber in Kauf nehmen, das scheint Konsens.
Ich denke nur, die Kosten für genau diese Menschen, deren Arbeitsplätze gefährdet wären, die werden höher sein, wenn Europa dauerhaft von Krieg überzogen wird. Die Rezession würde dann sehr viel stärker ausfallen. Wir schauen immer auf die Kosten des Tuns, aber nicht auf die Kosten des Nichtstuns. Die sind viel höher. Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Wenn die Ukraine verliert, dann ist nicht Frieden, sondern dann wird Putin weitergehen.
Macht die Bundesregierung sich diese Illusionen? Zu denken, wenn der Krieg mal vorbei ist, können wir wieder zum Normalzustand von vorher zurückkehren - mit Russland?
Bei Teilen unserer Regierung habe ich diesen Eindruck. Es würde auch die Modi unserer Waffenlieferungen erklären und die ständige Betonung, es sei nur Putins Krieg.
Aber Sie sagen: Putin wird weitergehen.
Nochmal: Im russischen Fernsehen wird das völlig offen so kommuniziert: "Die Ukraine ist nur ein Zwischenschritt in der Wahrung unserer sicherheitspolitischen Interessen in der Welt." Wir müssen einfach lernen, Diktatoren zu glauben, wenn sie so etwas sagen. Das heißt: Putin wird in Moldawien einmarschieren, er wird in Georgien einmarschieren. Dann werden grüne Männer, die offiziell nicht zu Russland gehören, aber tatsächlich natürlich schon, in Polen und im Baltikum stehen. Dann wird es Cyberangriffe geben auf europäische Infrastruktur, die NATO wird sich streiten, ob das schon kriegerische Handlungen sind, wird schließlich beschließen, dass es noch keine kriegerischen Handlungen sind, denn sonst müsste man ja Krieg führen gegen Russland. Diesen ganzen Spielplan sehe ich schon vor mir, und er wird uns so unendlich viel mehr kosten.
Hat Deutschland, hat der Westen aus Ihrer Sicht noch nicht verstanden, mit wem er es zu tun hat?
Wolodymyr Selenskyjs Sicherheitsberater hat neulich in einem Interview gesagt, man merke Scholz und Macron genau an, wenn sie mit Putin telefoniert haben. "Die können mit uns telefonieren und machen Zusagen", beschreibt er, "und dann telefonieren sie einige Stunden später mit Putin und klingen uns gegenüber anschließend plötzlich ganz anders". Sie hätten Angst vor Putin, sagt er. Und das ist das, was mich fertig macht. Dass unsere demokratischen Regierungen im Kampf gegen internationalen Autoritarismus vor Angst erstarren. Das gefährdet das Überleben meiner Familie.
Mit Marina Weisband sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de
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