Achillesferse der NATO
Die baltischen Länder fürchten schon lange einen Angriff aus Russland. Mit dem Krieg in der Ukraine ist diese Gefahr nur noch größer geworden. Viele fragen sich in diesen Tagen: Reicht die NATO aus, um Putin abzuschrecken?
Vergangene Woche war Imants Lieģis bei seinem Friseur in Riga. Einmal im Monat lässt sich der ehemalige lettische Verteidigungsminister die Haare schneiden, immer im selben Salon. Der Termin verlief wie üblich, erzählt Lieģis ntv.de. Doch am Ende verabschiedete sich der Friseur wie nie zuvor: "Wir sehen uns in einem Monat, und dann hoffentlich nicht in der Kaserne". Seit dem 24. Februar, als der russische Präsident Wladimir Putin seine Truppen über die Grenze in die Ukraine schickte, sind die baltischen Staaten in Alarmbereitschaft. Die Gefahr, von Russland überfallen zu werden, war noch nie so greifbar wie heute.
Viele glauben, was der ukrainische Präsident sagt: "Wenn es uns nicht mehr gibt, dann werden, Gott bewahre, Lettland, Litauen und Estland die nächsten sein", so Wolodymyr Selenskyj. Solche Annahmen werden auch im Baltikum geäußert: "Der Kampf um die Ukraine ist ein Kampf um Europa. Wenn Putin dort nicht gestoppt wird, wird er noch weiter gehen", warnte der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis schon vor Beginn des Krieges.
Die Sicherheitsbedenken Russlands
Nicht zum ersten Mal sind die baltischen Staaten besorgt über eine mögliche russische Invasion. Bisher, bis zum 24. Februar, konnte Russland mit einer Mischung von Diplomatie und Abschreckung aufgehalten werden. Die NATO ging davon aus, dass die baltischen Staaten aus Putins Sicht nur ein Sicherheitsrisiko sind, da das Bündnis seit ihrem Beitritt 2004 direkt an Russland grenzt. "Diesem Argument kann man rational folgen, auch wenn man es nicht unbedingt teilt", sagt der Oberst a.D. und Experte für Sicherheits- und Verteidigungspolitik beim deutschen Institut für internationale Politik und Sicherheit, Wolfgang Richter, im Gespräch mit ntv.de. "Das sind Aspekte, die man grundsätzlich über Rüstungskontrollverhandlungen lösen könnte. Leider sind aber die Rüstungskontrollabkommen in den letzten Jahren erodiert", sagt Richter.
Rüstungskontrollen, um Putins Sicherheitsbedenken zu beruhigen, wurden von westeuropäische Länder wie Frankreich und Deutschland begrüßt, während Osteuropa und die USA dem weniger entgegenkommen wollten. Das Bündnis machte aber dennoch 2016 deutlich, dass die Verteidigung seiner Ostflanke ernst gemeint ist. Nach der Krim-Annexion beschlossen die Bündnisstaaten, aufzurüsten. Seitdem hat die NATO dauerhaft multinationale Verbände in Estland, Lettland und Litauen sowie in Polen rotierend stationiert. Sie sind in der Regel etwa 1000 Soldaten stark, wurden aber in letzter Zeit wegen des Ukraine-Krieges deutlich verstärkt. Deutschland führt derzeit die Battlegroup in Litauen an, die derzeit etwa 1600 Soldaten stark ist. "Es ist klar, dass diese Bataillone ein Stolperdraht für Russland sein sollten", sagt Lieģis.
Ein Stolperdraht, der die NATO in einen Krieg mit Russland stürzen würde, wenn er ausgelöst wird. Das Risiko, in einen Krieg gegen ein Militärbündnis mit drei Atommächten einzutreten, "ist Putin und der russischen Führung durchaus bewusst", sagt Richter. "Niemand wird so weit gehen, denn das würde das Risiko eines Weltkriegs bedeuten."
Ein Blick in die Geschichtsbücher
Bisher hat dieser Stolperdraht gut funktioniert, Russland von einem Angriff abzuhalten - bis das Narrativ aus Russland geändert wurde. "Das ist ein völlig neues, imperiales Narrativ", sagt Richter. Spätestens seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim stellt Putin aktuelle Grenzen infrage. "Er schaut in die Geschichtsbücher, in eine Zeit, als das russische Zarenreich größer war und Teile der Ukraine umfasste."
Imants Lieģis verweist auf einen anderen Abschnitt der russischen Geschichte. "Putin will das wiedergutmachen, was er als große Ungerechtigkeit ansieht: die größte Katastrophe der letzten Jahrhunderte, die Auflösung der Sowjetunion", sagt Lieģis ntv.de. Schon 2005 hat Putin den Zerfall der Sowjetunion zur "größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts" erklärt. Implizit wird dies auch als Grund für den Einmarsch in die Ukraine angesehen. Und wenn Russland tatsächlich über eine Neuauflage der Sowjetunion nachdenkt, dann werden die ehemaligen sowjetischen Staaten im Baltikum zurecht nervös.
"Wir haben es hier mit einer Situation zu tun, in der relativ rationale Fragen der Rüstungskontrolle, die man diskutieren kann, mit imperialem Denken verwoben sind", sagt Richter. Die traditionelle Rüstungskontrolldiplomatie, falls die NATO sich darauf verständigen könnte, würde angesichts der neuen Argumentation des Kremls nicht mehr funktionieren: "Dieses neue Narrativ ist mit Rüstungskontroll-Argumenten nicht mehr einzufangen."
Achillesferse der NATO
Es ist nicht nur das neue historische Narrativ, das zum unruhigen Gefühl in den baltischen Staaten beiträgt. Die geografische Lage der Länder macht sie besonders verwundbar. Mit Russland im Osten und Belarus im Süden gibt es auf der westlichen Seite Litauens eine einzige Grenze, die das Baltikum mit Europa verbindet. Die sogenannte Suwalki-Lücke, ein 65 Kilometer breiter Landstreifen, ist auch die einzige Verbindung zwischen den baltischen Staaten und anderen NATO-Ländern.
Nördlich dieser Suwalki-Lücke liegt Kaliningrad. Die russische Exklave blieb nach dem Zerfall der Sowjetunion Teil Russlands. Militärisch ist das kleine Stück Land für Russland äußerst wichtig - und auch die Achillesferse der NATO. In Kaliningrad habe Russland "eines der am stärksten militarisierten Gebiete in Europa", sagte Gitanas Nauseda, der litauische Präsident, kürzlich. "Litauen fühlt sich zwischen diesem stark militarisierten Gebiet und Belarus eingeklemmt."
So wie Putin derzeit versucht, in der Südukraine einen Korridor zwischen den von russischen Separatisten kontrollierten Gebieten Luhansk und Donezk und der Halbinsel Krim zu etablieren, könnte er dasselbe auch zwischen Kaliningrad über die Suwalki-Lücke nach Belarus versuchen.
Die Frage ist allerdings, ob es Russland gelingen wird, eine weitere militärische Baustelle zu eröffnen. Der Krieg in der Ukraine hat die russische Armee geschwächt. Und wenn sie gegen die Ukraine - eine wesentlich kleinere und schwächere Militärmacht als die NATO - nicht vorankommt, wird sich Putin eine Invasion im Baltikum zweimal überlegen. Russland verfügt nur über begrenzte militärische Kapazitäten, und "einen zweiten militärischen Schwerpunkt wie in der Ukraine werden sie sich nicht leisten können", sagt Richter. Seit dem militärischen Misserfolg in der Ukraine "scheint Russland nun wieder zu den ursprünglichen Sicherheitsfragen zurückzukehren". Das imperiale Narrativ sei immer weniger ein Thema für Putin.
"Es ist nicht genug"
Dennoch sehen die baltischen Länder, wie Putin in ein Land einmarschiert ist, um alte Grenzen zu verschieben - und schlagen Alarm. "Wenn er mit der Ukraine nicht aufgehalten wird, glaube viele Analysten, er könnte weiter nach Polen und in die baltischen Regionen vordringen", sagt Lieģis. Seit dem Krieg in der Ukraine wird über die Verteidigung der Ostflanke der NATO wieder diskutiert. Das Bündnis hat sich entschieden, vier Kampfgruppen nach Bulgarien, Ungarn, Rumänien und in die Slowakei zu stationieren.
Zwar wurden zur weiteren Unterstützung der Region etwa 2700 US-Soldaten und weitere NATO-Truppen über die baltischen Staaten verteilt. Lettland reicht das nicht: "Wir begrüßen diese Verstärkungen, aber es ist nicht genug - absolut nicht genug", sagte Rihards Kols, der Vorsitzende des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten im lettischen Parlament. "Leider wurden auf dem Brüsseler Gipfel keine konkreten Entscheidungen auf den Tisch gelegt, um nicht nur die Ostflanke zu stärken, sondern auch die Verteidigungshaltung der baltischen Staaten insgesamt zu unterstützen."
Lieģis rechnet aber trotzdem nicht damit, seinen Friseur beim nächsten Mal in der Kaserne zu sehen. "Ich bin nicht davon überzeugt, dass Putin einen Kampf mit dem größten Militärbündnis der Welt beginnen will", sagt er. "Ich bin nicht so besorgt, wie ich es wäre, wenn Lettland auf sich allein gestellt wäre, wie es die Ukraine ist."
Quelle: ntv.de
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