Neue militärische Strategie
Ende März kündigt Russland eine neue Militärstrategie an. Zwei Wochen vergehen - der große Angriff auf die Ostukraine ist noch nicht erfolgt. Doch das könnte sich in den kommenden Tagen ändern. Denn je länger Russland die neue Offensive hinauszögert, desto besser steht die Ukraine da.
Vor zwei Wochen kündigte das russische Militär eine neue Strategie an. Der stellvertretende Generalstabschef Sergej Rudskoj erklärte in einer langen Rede, dass die Angriffe auf die gesamte Ukraine erfolgreich gewesen seien, man nun aber fortan "seine Kräfte bündeln" und sich einer neuen Strategie widmen werde. Das neue "Hauptziel" solle die "komplette Befreiung" des Donbass sein. Doch seither hat noch immer keine neue Offensive stattgefunden. Was plant der russische Präsident Wladimir Putin also mit seiner neuen Strategie?
Zu Beginn des Krieges hatte Russland vier Hauptangriffe in Gang gesetzt: erstens von Belarus aus auf die Hauptstadt Kiew. Zweitens wurde Charkiw an der russischen Grenze massiv angegriffen. Drittens wurde eine Frontlinie auf die von russischen Separatisten kontrollierten Gebiete von Luhansk und Donezk errichtet. Und viertens haben die russischen Streitkräfte von der Krim aus sowohl westlich als auch östlich der Halbinsel angegriffen.
So wollte Putin schnell einen Großteil der Ukraine einnehmen, in der Annahme, dass Regierung und militärischer Widerstand der Ukraine schnell kollabieren würden. Doch nach sechs Wochen Krieg zeichnet sich ein anderes Bild ab. "Russland hat erkannt, dass die Streitkräfte nicht in der Lage waren, den unerwarteten ukrainischen Widerstand an diesen Fronten zu brechen", erklärt der Generalmajor des österreichischen Bundesheeres, Günter Hofbauer, im Interview mit ntv.de. Lediglich den Angriff aus dem Süden kann Russland bislang als Erfolg verbuchen.
Neue Satellitenstaaten
Die neue Strategie Russlands besteht nun darin, diese vier militärischen Bewegungen neu auszurichten, um einen Großangriff auf die Ostukraine zu ermöglichen. "Das neue Ziel ist es, die Gebiete im Süden in Besitz zu halten", sagt Hofbauer. "Vermutlich besteht die Absicht, in den im Süden eroberten Gebieten eine Volksrepublik zu errichten, ähnlich wie es in Donezk und Luhansk geschehen ist, und Satellitenstaaten aufzubauen." Die Truppen aus Kiew werden also abgezogen und für dieses Ziel eingesetzt. Im Erfolgsfall könnte Russland weite Teile der wirtschaftlich bedeutsamen Ostukraine auf Dauer vom Rest des Landes abspalten und doch noch einen Sieg für sich reklamieren.
Diese Kräfte wurden vorerst nach Belarus verlegt. Die um Mensch und Material stark dezimierten Truppen mussten wiederaufgebaut werden. Russische Truppen aus Georgien werden in die Ukraine verlegt. Auch aus Russland werden offenbar neue Truppen herangezogen, um den Großangriff im Osten zu verstärken. Wie der ukrainische Generalstab berichtet, hat Russland damit begonnen, ehemalige Wehrpflichtige zu einer dreimonatigen Sonderausbildung einzuladen, um sie dann in die Ukraine zu verlegen.
Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums sind am Mittwoch noch keine Bewegungen russischer Truppen in Richtung Ostukraine zu erkennen. Generalmajor Hofbauer geht jedoch davon aus, dass die russischen Truppen bereits auf dem Weg dorthin sind. "Ich erwarte, dass in den nächsten Tagen der massive Angriff beginnen kann", erklärt er. Dass Russland mit einem Angriff nicht zu lange warten wird, sagen auch Quellen aus dem US-Verteidigungsministerium. "Wir gehen davon aus, dass sie nicht zu viel Geld für die Umrüstung und Versorgung ausgeben wollen, weil sie öffentlich erklärt haben, dass sie ihre Anstrengungen auf die Donbass-Region konzentrieren wollen", so ein US-Verteidigungsbeamter.
Ukrainische Streitkräfte einkesseln
In jedem Fall ist das Ziel bereits offensichtlich, sagte Hofbauer: "Russland versucht, die ukrainischen Streitkräfte, die noch an der Kontaktlinie im Donbass Widerstand leisten, nach dem Durchbruch bei der Stadt Isjum einzukesseln." Zu Beginn des Krieges hatte die russische Armee versucht, die ukrainischen Streitkräfte frontal an der Frontlinie im Osten anzugreifen. Jetzt versucht Russland, von Norden her vorzustoßen und gleichzeitig auch von Süden her anzugreifen. "Das würde die ukrainischen Kräfte abschneiden", erklärt Hofbauer. Sie hätten dann keine Versorgungs- oder Rückzugswege mehr in Richtung Westen.
Die neue militärische Bewegung braucht jedoch viel Zeit. Obwohl Russland versucht, so viele neue Truppen wie möglich zu entsenden, müssen die auch im Osten der Ukraine stark dezimierten Truppen erst wieder aufgebaut werden. Und dabei stößt die Armee in diesen Tagen auf weitere Probleme: Die weltweiten Sanktionen scheinen sich auch auf das Militär auszuwirken. Wie die ukrainische Hauptnachrichtendirektion (GUR) berichtet, sind russische Militärunternehmen aufgrund von Inflation und Lieferkettenproblemen nicht in der Lage, militärische Aufträge zu erfüllen. Dies bedeutet, dass Putin keine Lieferungen für wichtige Reparaturen und Verstärkungen schicken kann.
Und Zeit ist im Moment wichtig. Nicht nur, weil Putin selbst bis zum 9. Mai den Sieg verkünden will. Vielmehr könnte ein langsamer russischer Vormarsch für die Ukraine ein Vorteil sein. Denn mit jedem Tag, den Russland seinen Angriff verzögert, kann die Ukraine Verstärkung und Ausrüstung aus dem Westen des Landes an die Front im Osten verlegen. "Je mehr Zeit die Russen brauchen, um diesen Angriff vorzubereiten, desto besser stehen die Chancen für die Ukrainer", sagt Hofbauer.
Nachdem Russlands erste Strategie gescheitert ist, stellt sich nun die Frage, ob die neue Strategie erfolgreich sein wird. "Wenn Russland schnell handelt, hat es einen Vorteil gegenüber den ukrainischen Kräften", sagt Hofbauer. "Aber ich erwarte nicht, dass die neue Strategie einen zwingend zum Erfolg für Russland führen wird."
Quelle: ntv.de
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