Teilblockade von Kaliningrad
Weil Litauen den Güterverkehr zwischen Russland und Kaliningrad teilweise blockiert, droht ein neuer, gefährlicher Konflikt. Putin könnte das in die Hände spielen. Denn es passt zu seinem Narrativ eines Europas, das die Russen vernichten will.
Wie weit die russische Wirklichkeit inzwischen von der westlichen entfernt liegt, zeigt ein einziger Satz von Kremlsprecher Dimitri Peskow: Russland werde dem Westen nie wieder vertrauen, sagte er im US-Sender MSNBC. Nach russischer Lesart ist klar, wer im Konflikt mit dem Westen das Opfer ist - Russland. Der Streit um die Exklave Kaliningrad liefert dem Kreml nun einen weiteren vermeintlichen Beleg für dieses Narrativ.
In der russischen Exklave droht sich ein neuer Krisenherd zu entwickeln, der nach Meinung des Osteuropa-Experten Alexander Libman von der Freien Universität Berlin nicht weniger explosiv werden könnte als der Krieg in der Ukraine. "Der russische Staat hat eine Menge Phobien in Bezug auf die eigene territoriale Integrität", warnt Libman. "Jetzt diese Phobien zu wecken, halte ich nicht für sinnvoll." Weil die Teilblockade noch ausgeweitet werden soll, könnten sich die Spannungen zwischen Litauen und Russland noch weiter verschärfen.
Worum geht es überhaupt?
Seit dem 17. Juni blockiert Litauen den Transitverkehr von Gütern - darunter Baumaterialien, Stahl, weitere Metalle und Kohle - in die russische Exklave. Auch die einzige Zugstrecke zwischen Kaliningrad und Russland ist von den Beschränkungen betroffen. Allerdings betont die litauische Regierung, dass lediglich Güter und Personen unter das Verbot fielen, die auf der EU-Sanktionsliste stünden. Dies sei "keine Entscheidung Litauens", sagte der litauische Außenminister Gabrielius Lansbergis. Man setzte lediglich Beschlüsse aus Brüssel um.
Russland wertet die Teilblockade hingegen als "illegalen" und "feindlichen" Akt, spricht von Vertragsbruch und bestellte bereits den EU-Botschafter ein. Gleichzeitig bereite man Gegenmaßnahmen vor, die sich nicht nur auf diplomatische Wege beschränkten, heißt es aus dem russischen Außenministerium. Die Antwort Russlands solle auch die litauische Bevölkerung treffen, erklärte der Sekretär des russischen Sicherheitsrats, Nikolaj Patruschew.
Warum ist die Lage so gefährlich?
Neben der Ukraine hat Litauen aus Sicht von Libman "in einer ohnehin explosiven Lage" einen weiteren Eskalationspunkt geschaffen. Litauen ist nicht nur EU-Mitglied, sondern auch Teil der Nato. Würde der Streit um Kaliningrad militärisch eskalieren, könnte die litauische Regierung den Bündnisfall ausrufen. Auch Deutschland wäre dann verpflichtet, dem Nato-Partner militärisch beizustehen. Es wäre der Beginn eines neuen Weltkriegs.
Dass Russland in Kaliningrad tatsächlich militärisch aktiv werden könnte, glaubt Libman - ebenso wie der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff - zwar nicht, denn die russische Armee sei derzeit in der Ukraine stark eingebunden. "Und so viele Ressourcen hat Putin dann doch nicht." Allerdings sind auch noch nicht alle Sanktionen der EU in Kraft getreten. Bisher beschränkt sich die Blockade auf 40 bis 50 Prozent aller Transitgüter.
Was soll künftig noch sanktioniert werden?
Nach einem Bericht der Monatszeitung "Baltic Times" soll ab dem 10. Juli unter anderem die Einfuhr von Zement und Alkohol beschränkt werden, ab dem 10. August treten planmäßig weitere Sanktionen auf Kohle und andere feste fossile Brennstoffe in Kraft und ab dem 5. Dezember soll auch russisches Öl sanktioniert werden.
Warum ist Kaliningrad für Russland so wichtig?
Die Exklave ist der am westlichsten gelegene Teil der russischen Föderation, hat aber keine direkte Landverbindung nach Russland. Kaliningrad grenzt an Polen und Litauen sowie an die Ostsee. Das macht die Region geostrategisch und militärisch so wichtig für Moskau:
- Im Hafen von Baltijsk (Pillau) ist der Hauptstützpunkt der russischen Ostseeflotte. Mehr als 25.000 russische Soldaten sollen dort stationiert sein.
- Russland lagert in Kaliningrad ballistische Boden-Boden-Kurzstreckenraketen "Iskander", die eine Reichweite von 500 Kilometern haben und Nuklearsprengköpfe tragen können.
- Durch ihre Lage direkt an der Ostsee zwischen Polen und dem Baltikum hat die Flotte in Kaliningrad gute Möglichkeiten, Seewasserstraßen zu kontrollieren oder die Danziger Bucht zu blockieren.
Was hat Putin in dem Streit entgegenzusetzen?
Auf dem Land trennt Kaliningrad und Belarus lediglich ein 65 Kilometer langer Streifen - der sogenannte Suwalki-Korridor. Er ist zugleich die einzige Landverbindung zwischen Polen und den baltischen Staaten Litauen, Estland und Lettland. Sollte Putin tatsächlich militärisch gegen die Teilblockade Litauens vorgehen wollen, wäre sie ein logisches erstes Ziel.
Innerhalb von nur 30 bis 60 Stunden könnte Russland nach Einschätzung von Experten den Korridor schließen und das Baltikum vom Rest der Europäischen Union isolieren. Wichtige Straßen, Bahn- und Stromtrassen wären dann blockiert. Auch eine Gas-Pipeline verläuft über diese Schnittstelle. Kurzum: Die Versorgung der baltischen EU-Staaten käme auf dem Landweg zum Erliegen.
Ist die Teilblockade also ein Fehler?
Aus mehreren Gründen ist Libman davon überzeugt. Nicht nur bestünde dem Experten zufolge die Gefahr, dass nun in Kaliningrad Bilder für das russischen Fernsehen entstehen, die Putins Vorgehen beim eigenen Volk weiter legitimieren. Auch ihren eigentlichen Sinn könne die Teilblockade nicht erfüllen. "Diese Art von Sanktionen wird Russland nicht zum Einlenken in der Ukraine bewegen", glaubt Libman. Zudem treffe die Teilblockade nicht etwa Putin, sondern die Zivilbevölkerung in der Exklave. "Das ist zwar keine Blockade wie in Ost-Berlin", so der Experte. "Aber Kaliningrad kann sich selbst nicht versorgen. Insofern ist es schon eine massive wirtschaftliche Einschränkung."
Wie geht es der Zivilbevölkerung in Kaliningrad?
In Kaliningrad leben zwar nur etwa 440.000 Menschen, dem Kreml gegenüber sind sie trotz ihrer isolierten Lagre aber sehr loyal. Immerhin sind sie wirtschaftlich abhängig von Russland. In den sozialen Medien kursieren bereits Videos von tumultartigen Szenen in Baumärkten. Die Sorge ist groß, dass die Teilblockade nicht nur die Preise in die Höhe treibt, sondern am Ende auch Arbeitsplätze kostet - zum Beispiel, weil Bauprojekte wegen fehlenden Materials nicht mehr fortgesetzt werden können.
Was kann die Bundesregierung jetzt noch tun?
Dass die Bundesregierung auf diplomatischem Weg zu einer Deeskalation der Lage beitragen kann, glaubt Osteuropa-Experte Libman nicht. Russland sehe Deutschland nicht mehr "als Land, mit dem man getrennt von der EU oder der NATO sprechen kann und will". Zudem hatte Bundeskanzler Olaf Scholz Litauen bereits vor dem Streit um Kaliningrad die volle Unterstützung Deutschlands zugesichert - und eine weitere militärische Stärkung der NATO-Ostflanke angekündigt. "Wir haben uns fest vorgenommen, dass wir unser Engagement in Richtung einer robusten Kampfbrigade weiter entwickeln", so Scholz beim Besuch in Litauen Anfang Juni.
Schon seit fünf Jahren leitet die Bundeswehr einen multinationalen NATO-Kampfverband mit rund 1600 deutschen Soldaten, der vor allem als Abschreckung dienen soll. Doch nicht allen reicht das. Man müsse auf eine nukleare Bedrohung vorbereitet sein, sagt etwa Ingo Gerhardtz, Generalleutnant der Luftwaffe. "Für eine verlässliche Abschreckung brauchen wir sowohl die Mittel als auch den politischen Willen, die nukleare Abschreckung nötigenfalls umzusetzen."
Quelle: ntv.de
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