Immer wieder heißt es, die Russland-Sanktionen zeigten zu wenig Wirkung, der Westen schade sich damit selbst mehr als Putin. Eine Analyse der US-Universität Yale widerspricht dieser Einschätzung. Im Gegenteil: Die Sanktionen seien für die russische Wirtschaft verheerend, schreiben die Autoren.
Das Sanktionspaket westlicher Staaten gegen Russland ist beispiellos und fiel für viele Beobachter nach vorangegangenen zögerlichen Reaktionen auf Moskaus Aggressionen unerwartet hart aus. Laut "Correctiv" wurden seit dem 22. Februar fast 6800 Sanktionen gegen Unternehmen, Personen, Institutionen und andere Ziele verhängt. Mit etwa 1500 Maßnahmen zeigen vor allem die USA Initiative, gefolgt von der Schweiz (1070), Großbritannien (995) und der EU (870).
Doch Berechnungen des staatlichen Kreditinstituts Wneschekonombank nach ist das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis Ende Mai "nur" um sechs Prozent geschrumpft, der Rubel ist stärker als zuvor. Es mehren sich daher Zweifel an der Wirksamkeit der Sanktionen, und Stimmen werden lauter, der Westen - allen voran Deutschland und die EU - schadeten sich durch die Maßnahmen mehr als sie Russland träfen.
Eine Analyse der renommierten US-Universität Yale will mit solchen Mythen aufräumen. Sie zeigt, dass die Sanktionen die russische Wirtschaft "katastrophal lähmen" und es für das Land "keinen Weg aus der wirtschaftlichen Vergessenheit gibt, solange die verbündeten Länder den Sanktionsdruck aufrechterhalten".
Alternative Quellen genutzt
Dass die Missverständnisse fortbestünden, sei angesichts mangelnder verfügbarer Wirtschaftsdaten nicht ganz überraschend, schreiben zwei der Autoren, Jeffrey Sonnenfeld und Steven Tien, im "Foreign Policy Magazine". Viele der "übermäßig optimistischen" Wirtschaftsanalysen, Prognosen und Projektionen hätten den entscheidenden methodischen Fehler gemeinsam, dass sie sich auf Veröffentlichungen der russischen Regierung bezögen.
Für die Analyse hat ein Expertenteam der Yale-Wissenschaftler daher auf alternative Quellen zurückgegriffen. Dazu gehören hochfrequente Verbraucherdaten, Mitteilungen von Russlands internationalen Handelspartnern, Data-Mining und kanalübergreifende Kontrollen.
Eine Erkenntnis der Analyse ist, dass Europa zwar erpressbar durch seine Abhängigkeit von Gasimporten ist, Russland durch ein Embargo aber noch viel schlimmer getroffen wird. 83 Prozent seiner Gasexporte gingen 2021 in die EU, deren Importe stammten aber nur zu 46 Prozent aus Russland, so die Analyse. Gazprom-Zahlen zufolge sei die russische Gas-Produktion in diesem Monat bereits um mehr als 35 Prozent im Jahresvergleich zurückgegangen.
China könne die Lücke nicht füllen, da die meisten russischen Pipelines nach Europa führten und nur zehn Prozent der russischen Kapazitäten Flüssiggas sei, stellt die Analyse fest. Im vergangenen Jahr habe China weniger als zehn Prozent des europäischen Volumens importiert, eine entstehende Pipeline könnte künftig nur etwa die gleiche Menge hinzufügen. Außerdem verursache der Pipeline-Bau nach China enorme Kosten.
"Russland ist keine Energie-Supermacht mehr"
Öl ist zwar leichter zu transportieren, aber die Exporte machen Russland auch nicht reich. Die Situation spiegele Putins geschwundene wirtschaftliche und geopolitische Macht wider, schreiben Tien und Sonnenfeld. Im Wissen, dass Russland keine anderen Optionen habe, hätten China und Indien einen gewaltigen Rabatt von 35 Dollar auf Ural-Öl durchgesetzt. Zuvor habe Moskau nie mehr als 5 Dollar gewährt, schreiben die Wissenschaftler - nicht einmal während der Krimkrise 2014.
Öltanker seien mit 35 Tagen obendrein fünfmal länger nach Ostasien als nach Europa unterwegs und die Erschließung von Ölfeldern sei stark von westlicher Technologie abhängig. Das alles verteuere die russische Ölproduktion und führe dazu, dass die ohnehin schon hohe Gewinnschwelle weiter nach oben gehe.
Selbst das russische Energieministerium habe seine Prognosen zur langfristigen Ölförderung nach unten revidiert, schreiben Sonnenfeld und Tien. Es bestehe kein Zweifel, dass Russland, wie von vielen Energieexperten vorhergesagt, seinen Status als Energie-Supermacht und damit seine strategisch wirtschaftliche Positionierung als einst zuverlässiger Lieferant von Rohstoffen verliere.
Defizit statt Überschuss
Aufgrund der genannten Defizite werde Russland auch durch die hohen Energiepreise keinen Haushaltsüberschuss, sondern laut Angaben des Finanzministers in diesem Jahr ein Defizit von 2 Prozent erzielen, so die Analyse. Putins Ausgabenwut sei daran schuld, schreiben Sonnenfeld und Tien. "Zusätzlich zu den dramatischen Steigerungen der Militärausgaben greift Putin zu offensichtlich unhaltbaren, dramatischen fiskalischen und monetären Interventionen, einschließlich einer langen Liste von Lieblingsprojekten des Kremls, die alle dazu beigetragen haben, dass sich die Geldmenge in Russland seit Beginn der Invasion fast verdoppelt hat."
Die Studie verweist in diesem Zusammenhang auf Seite 61 auf einen Artikel der "Moscow Times", der titelt, die Ausgaben für den russischen Präsidenten seien in zwei Monaten um 40 Prozent gestiegen. Das nennt Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) "Quatsch". Putins persönliche Ausgaben seien minimal, die Autoren hätten sich "offenbar noch nie das russische Budget angeschaut", twitterte er.
Kluge kritisiert auch den Stil des Yale-Papiers, der nicht hilfreich sei. Ansonsten seien die aufgezählten Mythen tatsächlich falsch und er sei im Prinzip mit allem einer Meinung. Es sei auch falsch, zu sagen, die Sanktionen zeigten keine Wirkung. "Aber man sollte vorsichtig bleiben in der Analyse, sonst gibt es erst recht eine Enttäuschung am Ende."
Das Geld wird knapp
Oft wird auf Moskaus enorme Devisenreserven verwiesen, mit denen Putin die Sanktionen noch lange aussitzen könne. Doch von den rund 600 Milliarden Dollar seien 300 Milliarden eingefroren, schreiben die Wissenschaftler, Europa und Japan beschränkten den Zugang. Die verbliebenen 300 Milliarden schrumpften rasant, seit Kriegsbeginn bereits um 75 Milliarden Dollar.
Tien und Sonnenfeld stempeln auch den starken Rubel-Kurs als Propaganda ab. Er sei "eine künstliche Widerspiegelung einer beispiellosen, drakonischen Kapitalkontrolle, die zu den restriktivsten der Welt zählt. Die Beschränkungen machen es praktisch jedem Russen unmöglich, legal Dollars zu kaufen oder sogar auf einen Großteil seiner Dollareinlagen zuzugreifen, während die Nachfrage durch erzwungene Käufe durch große Exporteure künstlich aufgebläht wird."
Der offizielle Wechselkurs sei ohnehin irreführend, da der Rubel im Vergleich zur Zeit vor der Invasion aufgrund der geringen Liquidität mit dramatisch geringeren Volumina gehandelt werde. Berichten zufolge soll ein Großteil dieses einstigen Handels auf die inoffiziellen Rubel-Schwarzmärkte abgewandert sein.
Ohne West-Importe ist das Land aufgeschmissen
Russland wäre zwar gerne Selbstversorger, seine Industrie kommt aber ohne Importe nicht aus, beispielsweise Komponenten und Maschinen. Immerhin machten sie vor der Invasion 20 Prozent des BIP aus. Doch die Importe sind laut Analyse bereits um 50 Prozent eingebrochen.
Trotz Lippenbekenntnissen hilft China auch hier Putin nicht aus der Patsche. Laut den jüngsten monatlichen Veröffentlichungen der chinesischen Zollverwaltung seien die chinesischen Exporte nach Russland von Anfang des Jahres bis April sogar um mehr als 50 Prozent eingebrochen und von monatlich über 8,1 Milliarden US-Dollar auf 3,8 Milliarden US-Dollar gefallen, so die Analyse. Chinesische Unternehmen seien offenbar eher besorgt, gegen US-Sanktionen zu verstoßen, als marginale Positionen auf dem russischen Markt zu verlieren, schreiben Tien und Sonnenfeld.
Binnenmarkt bricht ein
Krieg und Sanktionen haben laut Analyse mehr als 1000 globale Unternehmen aus Russland vertrieben, die rund 40 Prozent des BIP ausmachten und 12 Prozent der Arbeitnehmer (5 Millionen) stellten. Eine halbe Million Menschen hätten bereits das Land verlassen, viele von ihnen hoch qualifizierte Fachkräfte.
Auch der Binnenmarkt ist von den Sanktionen schwer getroffen. Ohne Kapazitäten, um verlorene Unternehmen, Produkte und Talente zu ersetzen, sei die russische Inlandsproduktion vollständig zum Erliegen gekommen, resümiert die Analyse. Die Aushöhlung der heimischen Innovations- und Produktionsbasis habe zu steigenden Preisen und Verbraucherängsten geführt.
Obwohl Russland schon stärker unter den Sanktionen ächzt, als es zugeben will, fordern die Yale-Wissenschaftler weitere Maßnahmen im Energie- und Finanzsektor sowie individuelle Sanktionen. "Für Russland gibt es keinen Weg aus der wirtschaftlichen Vergessenheit, solange die verbündeten Länder den Sanktionsdruck auf Russland beibehalten und erhöhen."
Quelle: ntv.de
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