Jana Baldus von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung sieht in Putins Rhetorik Hinweise, dass Russland einen Atomwaffeneinsatz legitimieren will. Ob seine Drohungen ernstgemeint sind, könne man nicht einschätzen, sagt sie: "Wenn uns dieser Krieg etwas gelehrt hat, dann, dass man auch mit Horrorszenarien rechnen sollte."
Den von Putin mutmaßlich bezweckten Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine lehnt Jana Baldus trotzdem klar ab: "Wenn wir das täten, würden wir Putin zeigen, dass es wirkt, solche Drohungen auszustoßen. Damit würde es wahrscheinlicher, dass diese Drohung in Zukunft noch öfter angewendet wird."
ntv.de: Als Putin die Mobilmachung verkündete, sagte er: "Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht ist, werden wir natürlich alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um Russland und unser Volk zu schützen." Eigentlich steht in der russischen Nukleardoktrin, dass Atomwaffen nur eingesetzt werden, wenn die Existenz des russischen Staats gefährdet ist. Gilt das nicht mehr?
Jana Baldus: Das gilt immer noch. Die nukleare Doktrin Russlands besagt, dass sie, wenn ihre Existenz bedroht ist, mit einem Nuklearschlag antworten können. Natürlich wird dem durch die Annexion ein großes "Aber" angefügt und so die nukleare Doktrin ausgeweitet auf den Fall, dass auch dann ein Nuklearschlag möglich ist, wenn Russland in den annektierten Gebieten seine Interessen bedroht sieht. Das geht weit über die bisherige Nukleardoktrin hinaus.
In seiner Annexionsrede am vergangenen Freitag sprach Putin davon, dass Russland "unser Land mit allen uns zur Verfügung stehenden Kräften und Mitteln verteidigen" werde.
Die Annexion kann so einen möglichen Atomwaffeneinsatz legitimieren. Die Gegenoffensive der Ukraine in den annektierten Gebieten stellt sicher keine Bedrohung für die Existenz des russischen Staates dar - aber aus russischer Sicht ist sie vermutlich durchaus eine Bedrohung der "territorialen Integrität" Russlands.
Putin hat in seiner Annexionsrede konkret auf Atombombenabwürfe 1945 in Hiroshima und Nagasaki verwiesen und gesagt, die USA hätten damit einen Präzedenzfall geschaffen. Soll das heißen, dass das Tabu, Atomwaffen einzusetzen, aus seiner Sicht jetzt kein Tabu mehr ist?
Völkerrechtlich gesehen würde ein Atomwaffeneinsatz eindeutig gegen internationales Recht verstoßen, und nach heutigen Maßstäben gilt das rückblickend auch dafür, was in Hiroshima und Nagasaki geschehen ist. Ich denke, dass Putin sich dessen auch absolut bewusst ist. Es ist ein weiterer Hinweis, dass Putin einen Atomwaffeneinsatz legitimieren will. Allein schon seine Argumentation ist eine Schwächung des nuklearen Tabus. Das ist natürlich hochgradig problematisch.
Wie kann man einschätzen, ob solche Drohungen ernstgemeint sind?
Man kann es nicht einschätzen. Die Invasion insgesamt hat gezeigt, dass auch wir in der Wissenschaft oft falsch mit unserer Lagebeurteilung lagen, weil wir davon ausgingen, dass Putin vermeintlich rationale Entscheidungen fällt. Es wird zwar immer gesagt, dass der Einsatz von Atomwaffen weder militärisch noch politisch Sinn ergibt. Aber das gilt für den ganzen Krieg. Russland hat ihn trotzdem angefangen. Insofern ist es schwierig, solche Drohungen einzuordnen.
Militärexpertinnen und Geheimdienste in den USA und in anderen NATO-Staaten versuchen zu beobachten, was in Russland passiert. Gibt es dort irgendwelche Bewegungen, die darauf hindeuten könnten, dass ein Einsatz von Atomwaffen geplant ist? Normalerweise liegen die Sprengköpfe getrennt von den Trägersystemen, sie müssten also dorthin transportiert werden. Oder bewegen sich Truppen, die für Atomwaffen zuständig sind? Wenn etwas in dieser Richtung passiert, dann wird es heikel. Aber bisher gibt es keine Anzeichen dafür.
Am Wochenende gab es Berichte über mögliche Bewegungen: Ein polnischer Verteidigungsexperte twitterte über einen Zug, der einer Abteilung des russischen Verteidigungsministeriums zugeordnet wurde, die wiederum für das russische Nuklearwaffenarsenal zuständig ist, das 12. Hauptdirektorat des russischen Verteidigungsministeriums, auch wenn er selbst schrieb, das Video, das den Zug zeigt, bedeute nicht, dass es Vorbereitungen für einen Atomschlag gebe. Und die "Times" berichtete, die NATO habe ihre Mitglieder gewarnt, dass Russland eine atomwaffenfähige Unterwasserdrohne namens Poseidon vor der ukrainischen Küste testen könne. Was ist von solchen Meldungen zu halten?
Der Zug wurde auf Twitter hoch und runter diskutiert, aber da sind sich die meisten Militärexpertinnen einig, dass das nichts mit Atomwaffen zu tun hat. Auch aus den USA gab es eine Entwarnung. Und Poseidon ist zwar nuklearwaffenfähig. Aber wenn die Unterwasserdrohne getestet würde, müsste das allein noch nichts bedeuten. Es wäre eher ein Versuch, dem Westen Angst zu machen. Ohnehin wäre ich mit solchen Meldungen vorsichtig. Wenn es tatsächlich belastbare Indizien für einen unmittelbar bevorstehenden Einsatz von Atomwaffen geben sollte, wäre die Wahrscheinlichkeit groß, dass die breite Öffentlichkeit das nicht mitbekommen würde.
Wir würden davon überrascht?
Das vermute ich.
Wie zerstörerisch sind die sogenannten taktischen Atomwaffen eigentlich?
Es wird häufig von "kleineren Atomwaffen" gesprochen. Aber man muss sich klarmachen, dass die meisten dieser Atomwaffen mindestens so viel Sprengkraft haben wie die Atombomben, die auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden. Dort sind bis zu 250.000 Menschen ums Leben gekommen. Der Einsatz von taktischen Atomwaffen gegen eine ukrainische Stadt wäre verheerend. Es gibt eben keine "kleinen" Atomwaffen, weil diese Waffen allesamt sehr, sehr weitreichende Folgen haben.
Was würde Russland beim Einsatz von taktischen Atomwaffen gegen die Ukraine riskieren?
Sie würden vor allem eine Reaktion der NATO und der USA riskieren. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass die USA und die NATO nicht mindestens konventionell darauf antworten würden, um zu zeigen, dass ein Atomwaffeneinsatz der größte denkbare Tabubruch ist. Politisch würde Russland sich damit isolieren. Viele Staaten, die Russland jetzt noch unterstützen oder sich indifferent zum Krieg in der Ukraine verhalten, würden sich nach einem Atomwaffeneinsatz wahrscheinlich von Moskau abwenden, weil es tatsächlich ein Präzedenzfall wäre. Russland wäre dann politisch isoliert.
Der frühere US-General David Petraeus hat gesagt, die USA und ihre Verbündeten würden im Fall eines nuklearen Angriffs auf die Ukraine die gesamte konventionelle Streitmacht der Russen in der Ukraine einschließlich der Krim und des Schwarzen Meeres ausschalten, und er meinte offenbar, dass dafür nicht-nukleare Waffen verwendet würden, um nicht nuklear zu eskalieren. Ist das die offizielle Position der NATO?
Ob das die offizielle Position der NATO ist, das weiß ich nicht. Ich würde argumentieren, dass es in jedem Fall wichtig wäre, auf einen möglichen Atomwaffenschlag zu reagieren, um die nukleare Drohung nicht zu normalisieren. Wenn Russland tatsächlich Atomwaffen einsetzen würde und die USA und die NATO reagieren darauf nicht, was würde dann passieren? Atomwaffen würden als legitimes Mittel in Kriegen gelten; es könnte normal werden, Atomwaffen in kriegerischen Konflikten zu benutzen. Das darf nicht passieren. Genauso wichtig ist aber auch, dass die NATO und die USA nicht nuklear reagieren.
Sie haben schon davon gesprochen, dass der Einsatz von Atomwaffen Russland militärisch nichts bringen würde. Könnten sich dennoch strategische Vorteile ergeben?
Es wird viel darüber spekuliert, ob eine Atomwaffenexplosion in der Luft militärische Vorteile haben könnte, weil Satellitenverbindungen gekappt würden und Kommunikation und Aufklärung damit unmöglich wären. Aber ich glaube nicht, dass das kriegsentscheidend wäre, zumal Russland sich auch in diesem Fall, wie beschrieben, international ins Abseits stellen würde. Ein Einsatz gegen eine Stadt wäre nur militärisch sinnvoll, wenn es das russische Ziel ist, diese Stadt zu zerstören. In der Forschung wird das als nuklearer Holocaust bezeichnet.
Ein britischer Sicherheitsexperte hat spekuliert, Russland könnte die Schlangeninsel im Schwarzen Meer angreifen. Sie ist kaum besiedelt, wurde zum Symbol des ukrainischen Widerstands gegen die russische Invasion und liegt rund 30 Kilometer von der Küste entfernt. Ist so etwas vorstellbar?
Es wäre wiederum ein Signal der Stärke - wobei man darüber streiten kann, ob es wirklich Stärke ist, wenn eine Armeeführung meint, ein solches Signal aussenden zu müssen. Militärisch würde es keinen Sinn machen.
Unterm Strich: Für wie wahrscheinlich halten Sie den Einsatz einer taktischen Atomwaffe durch Russland in der Ukraine?
Militärisch und politisch halte ich es nicht für wahrscheinlich. Aber, wie gesagt, wir haben uns in diesem Krieg schon zu oft geirrt, um Szenarien ausschließen zu können. Wenn uns dieser Krieg etwas gelehrt hat, dann, dass man auch mit Horrorszenarien rechnen sollte.
Was sollte der Westen aus Ihrer Sicht tun, um die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass Russland Atomwaffen einsetzt: keine Waffen mehr liefern oder rote Linien ziehen?
Ich würde sagen: nicht nachgeben, auch bei den Waffenlieferungen nicht. Wenn wir das täten, würden wir Putin zeigen, dass es wirkt, solche Drohungen auszustoßen. Damit würde es wahrscheinlicher, dass diese Drohung in Zukunft noch öfter angewendet wird. Daher scheint es mir wichtig zu sein, klarzumachen, dass und wie die NATO und die USA reagieren würden. Schon jetzt sollte der Westen versuchen, über die NATO und die EU hinaus Verbündete für die Position zu finden, dass ein solcher Tabubruch keinesfalls hingenommen werden kann. Und es wäre wichtig, militärische Kontakte zu Russland aufrechtzuhalten und auszubauen, um Russland auf diesen Wegen klarzumachen, dass und wie die NATO reagieren würde.
Mit Jana Baldus sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de
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