Die Angst vor dem großen Crash
Argentinien weiß nicht wohin mit seinem Geld
29.04.2023, 16:04 UhrSeit Jahren leidet Argentinien unter hoher Inflation, die Reallöhne schrumpfen dramatisch. Nun weckt eine Kapitalflucht die Furcht vor einem Staatsbankrott mit unabsehbaren Folgen. Zugleich schlagen die Banken Alarm: Ihre Tresore quellen über.
Argentinien zittert vor dem finanziellen Kollaps. Der argentinische Peso hat in den vergangenen Tagen vorübergehend mehr als ein Viertel seines Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren - und zwar auch auf dem überlebenswichtigen Straßenkurs, wo ein großer Teil privater Tauschgeschäfte abgewickelt werden. Seit Anfang des Jahrhunderts war der Peso nie weniger wert, der größte Schein nun etwas mehr als 2 US-Dollar. Das hat Folgen für die Bevölkerung, die Wirtschaft - und bringt auch logistische Probleme der Banken und Bargeldversorgung mit sich. Mehr Scheine brauchen mehr Platz.
Argentinien meldete für den März im Jahresvergleich eine Inflation von 104,3 Prozent, eine der höchsten der Welt. Historisch gesehen kämpft das südamerikanische Land bis auf wenige ruhigere Phasen fast permanent mit Geldentwertung, aber in der nahen Vergangenheit hat der Wertverlust gegenüber dem Dollar selbst für argentinische Verhältnisse rapide zugenommen.
Eine Kapitalflucht des Peso wie in der vergangenen Woche, mit explodierender Nachfrage auf den Dollar, gab es seit 2018 nicht mehr. Wirtschaftsministerium und Zentralbank haben sie mit verschiedenen Maßnahmen zunächst eingedämmt. Bekommen sie das Problem nicht in den Griff und verweigert der Internationale Währungsfonds seine Hilfe, könnte Argentinien bankrottgehen. Die Folgen sind nicht absehbar.
Die Ursachen sind vielseitig. Die Wirtschaft braucht ständig Dollar für Importe. Bei der Zentralbank sind die Devisenreserven jedoch äußerst dünn. Sie spürt unter anderem die Folgen einer Dürre, die dem wichtigen Agrarsektor zu schaffen macht. Die Ausfuhrzölle auf dessen Exporte füllen sonst die Dollarspeicher wieder auf, aber die Ernte ist dürftig. Zudem misstraut die Bevölkerung der eigenen Währung wegen historischer Erfahrungen sowie ständiger Inflation ohnehin. Wer sparen oder ins Ausland reisen will, kann auf Dollar oder Euro nicht verzichten. Unternehmen schielen währenddessen auf den Straßenkurs, der sogenannte Dólar Blue, und passen entsprechend ihre Verbraucherpreise an.
Der nächste Präsident, bitte
Die gesellschaftlichen Folgen der ständigen Geldentwertung und Preisentwicklung sind gravierend. Die Wirtschaft wächst, die Armut auch. Im März unterschritten fast 40 Prozent der Bevölkerung die Einkommensuntergrenze zur Armut. Die Löhne kommen der Inflation schon seit Jahren nicht hinterher, in den vergangenen Jahren haben die Argentinier etwa 25 Prozent ihrer Kaufkraft verloren. Entsprechend ist die politische Prognose für die Präsidentschaftswahlen im Oktober: Der aktuelle Staatschef Alberto Fernández verabschiedete sich schon vor einigen Tagen per Video. Der Peronist wird nicht wieder antreten. Seine Erfolgschancen wären klein bis winzig gewesen.
Fernández' Amtszeit begann schon in der Krise, weil sein Vorgänger, der marktliberale Staatschef Mauricio Macri, ebenfalls mit Kapitalflucht und Krise zu kämpfen hatte und deshalb gegen den sozialer orientierten Fernández und seine Vize Cristina Kirchner im Jahr 2019 die Wahl verlor. Dann kamen die Pandemie, der Ukraine-Krieg, die Dürre. Nun erbt jemand anders die aktuellen und historischen Probleme des Landes. Eine Vielzahl von Kandidaten haben bereits erklärt, in den Regierungspalast der Casa Rosada in Buenos Aires einziehen zu wollen.
Die Zentralbank setzt schon seit mehreren Jahren auf kontrollierte Dollar-Wechselkurse, Kaufgrenzen und Auflagen, damit sie handlungsfähig bleibt. Um die Kapitalflucht über legale Kanäle einzudämmen, erhöhte die Zentralbank deutlich die Zinsen. Argentinier dürfen privat und legal ohnehin nur 200 Dollar monatlich erwerben, und lediglich dann, wenn sie bestimmte Sozialleistungen nicht erhalten. Doch die Nachfrage ist wesentlich höher als das offizielle Angebot. Deshalb gibt es den Dólar Blue. Er ist derzeit etwa doppelt so teuer wie der bei der Bank.
Unter Macri hatte Argentinien den größten Kredit in der Geschichte des Internationalen Währungsfonds IWF erhalten, etwa 57 Milliarden Dollar. Aber der größte Teil des Geldes ist schon lange weg und immer wieder stehen Rückzahlungen an. Zudem hat sich Argentinien im Gegenzug zu Defizitzielen für seinen Haushalt und zur Bildung von Dollar-Reserven verpflichtet. Eine Rettungsmission der argentinischen Regierung soll nun innerhalb der nächsten drei Wochen in New York neue, gelockerte Notfallkonditionen mit dem Fonds aushandeln. Scheitern die Verhandlungen, wäre Argentinien bald bankrott.
Gerüchte verursachen Kapitalflucht
Die Kapitalflucht wurde durch mehrere Entwicklungen ausgelöst. Zunächst schlug der Javier Milei, der rechtslibertäre Kandidat der diesjährigen Präsidentschaftswahlen, bei einem Wirtschaftsforum in der vergangenen Woche vor, den Dollar einzuführen, um das Wechselkurschaos zu beenden. Dazu kamen mehrere Gerüchte. Der präsidentielle Berater habe Fernández vorgeschlagen, den Peso auf einen Schlag um 30 Prozent zu entwerten, hieß es, zudem solle er Wirtschaftsminister Sergio Massa ersetzen. Wenige Tage später war der Berater gefeuert, aber ein neues Gerücht im Umlauf: Der Peso werde bald um 50 Prozent entwertet. Die Folge: Ein Run auf alles, was Dollar bringt, um den Peso loszuwerden.
Der Handel des Dólar Blue ist zwar offiziell illegal, wird aber auf breiter Front akzeptiert. Die Realität hat die Legalität längst überholt. Durch die Bank melden argentinische Medien dessen täglichen Wechselkurs zum Dollar, als würde ihn die Zentralbank anbieten. Es gibt auch einen Euro Blue. Seit Fernández Amtsantritt im Dezember 2019 hat sich der Wert des Dólar Blue versechsfacht. Trotz allem hat seine Regierung seither keine nominal größeren Geldscheine ausgeben lassen, sondern stattdessen immer größere Mengen nachgedruckt.
Notlager für Scheinewahn
Weil die eigenen Kapazitäten für den Druck nicht ausreichen, vergab die argentinische Zentralbank in Brasilien, Spanien, Frankreich, China und sogar Malta ihre Druckaufträge. Im März waren in Argentinien fast 10 Milliarden Scheine im Umlauf, so viele wie noch nie. Mehr Scheine bedeutet mehr Platz, der einigen argentinischen Banken inzwischen fehlt. Die Tresorräume quellen über vor Geld, die Banken wissen nicht, wohin damit. Manche nutzen dürftig gesicherte Notlager.
Zuletzt beschwerten sich die beiden größten Bankenverbände bei der Zentralbank: "Die problematische Situation wird immer kritischer und bereitet Schwierigkeiten in Logistik, baulichen Kapazitäten und hohem finanziellen Aufwand", schrieben sie in einem Brief. Die Regierung kündigte an, einen 2000-Peso-Schein einführen zu wollen. Die Opposition forderte weitere, mit Nominalwert von 5000 Peso sowie 10.000 Peso und ätzte, die peronistische Regierung weigere sich nur, weil sie ihr Versagen nicht anerkennen wolle.
Ganz praktische Folgen erleben die Argentinier in ihrem Alltag. Ein Geldautomat fasst üblicherweise nur 8000 Scheine und hat niedrige tägliche Abhebegrenzen. Dem Scheinewahn wirken viele mit praktischen Lösungen entgegen und bezahlen so oft wie möglich mit elektronischen Services und Bankkarte. Doch ein großer Teil der argentinischen Wirtschaft bewegt sich im Schwarzmarkt oder Graubereich, ein Drittel der Arbeitnehmer arbeiten schwarz. Und dafür braucht es Bargeld.
Quelle: ntv.de
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