Aussenpolitisch ist Kamala Harris das grössere Risiko für Europa
Thema der Woche: Aussenpolitisch ist Kamala Harris das grössere Risiko für Europa
Trump oder Harris? Die einseitige europäische Fokussierung auf die Demokraten ist ein Fehler.
Illustration NZZ
Das ist kein Wahlkampf, sondern eine Achterbahnfahrt. Erst das Attentat auf Trump, dann der Rückzug Bidens. Beides zusammen garantiert einen besonderen Platz in den amerikanischen Geschichtsbüchern.
Der Verzicht des Präsidenten auf die Kandidatur bleibt für die Demokraten ein Desaster. Zwar haben sie sich rasch auf Kamala Harris verständigt und versuchen jetzt, Zuversicht zu versprühen. Aber sie kämpfen mit dem Rücken zur Wand. Drei Monate vor dem Wahltag die Kampagne auf den Kopf zu stellen, bedeutet einen Ritt auf der Rasierklinge.
Der letzte Präsident, der auf den letzten Metern aufgab, war ebenfalls ein Demokrat: Lyndon B. Johnson im Jahr 1968. Er verzichtete immerhin sieben Monate vor dem Wahltag, was eine halbwegs geordnete Neuaufstellung zuliess. Die Demokraten verloren dennoch.
Amerika ist einzigartig
Harris und ihre Bewerbung sind eine grosse Wundertüte. Sie hat nur wenige Spuren als Vizepräsidentin hinterlassen, am ehesten im Kampf für das Recht auf Abtreibung. Aussenpolitisch trat sie bisher nicht hervor. Dabei können amerikanische Präsidenten hier am meisten bewegen. In der Innenpolitik müssen sie sich mit einem oftmals widerständigen Kongress herumplagen. Nur jenseits der amerikanischen Grenzen ist der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte tatsächlich der mächtigste Mann der Welt.
Kein anderer Politiker hat einen so globalen Einfluss, nicht einmal der chinesische Präsident Xi Jinping kann sich dessen rühmen. Amerika ist einzigartig, selbst in einem Moment der Schwäche wie diesem. Was aber wird das Land mit seiner Macht anstellen? Das ist heute ungewisser denn je.
Das Argument, mit dem sich alle etablierten Parteien in Europa reflexartig hinter Bidens zweite Kandidatur stellten, lautete Berechenbarkeit. Der Präsident galt als verlässliche Grösse, sein Herausforderer als Sicherheitsrisiko.
Wäre Berechenbarkeit tatsächlich ein so entscheidendes Kriterium, müsste die europäische Politik nun unisono Trump unterstützen. Wenigstens lassen seine ersten vier Jahre im Weissen Haus Rückschlüsse auf eine zweite Amtszeit zu.
Der Republikaner war ein Lautsprecher, der mit allen Gepflogenheiten des präsidialen Comments brach. Aber er liess seinen verbalen Entgleisungen bemerkenswert wenige Taten folgen. Zwar schurigelte er die Europäer, weil diese sich als unzuverlässige Verbündete herausgestellt hatten, die Jahr um Jahr ihr Versprechen brachen, substanziell aufzurüsten.
Dennoch machte Trump seine Drohung nicht wahr, die Nato zu verlassen. Die Zusammenarbeit in der Allianz verlief bemerkenswert reibungslos. Dazu trug bei, dass sich der Präsident mit der vorlauten Klappe nie in neue Kriege und andere aussenpolitische Abenteuer stürzte. Selbst als Iran militärisch zündelte, beliess er es bei einem Gegenschlag, der gerade gross genug ausfiel, um die Abschreckung wiederherzustellen.
Nie sahen sich die Europäer vor die Wahl gestellt, den USA widerwillig in den Kampf zu folgen oder den grossen Bruder zu brüskieren. Trump neigt zu Alleingängen, aber auch Biden konsultierte seine Verbündeten vor dem Abzug aus Afghanistan nicht. Der Republikaner liess die Europäer nur mit dem Eifer des Narzissten spüren, wer in der transatlantischen Beziehung das Sagen hat. Das verzeihen sie ihm bis heute nicht.
Auf der Habenseite kann Trump verbuchen, dass er als erster Präsident seit langem Fortschritte im Nahen Osten erzielt hat. Unter seiner Ägide normalisierten Israel und mehrere arabische Staaten ihr Verhältnis mit den sogenannten Abraham Accords. Er bewies auch Weitsicht, als er das Atomabkommen mit Teheran ebenso kündigte wie den Vertrag mit Moskau über das Verbot von Mittelstreckenraketen in Europa.
Seine Regierung war die erste, welche konsequent auf die veränderten strategischen Herausforderungen reagierte: weg vom «War on Terror» und von den Kleinkriegen an der Peripherie, hin zur Konfrontation mit den revisionistischen Mächten China und Russland.
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