Donnerstag, 10. Oktober 2024

Die Nato will massiv aufrüsten. Das hätte für Deutschland und die Bundeswehr weitreichende Folgen

 

von Marco Seliger
Redaktor NZZ Deutschland
 
Lieber Herr Koch
Heute geht es um Wladimir Putins verschwundenen Palast am Schwarzen Meer in Sotschi und um die geplante Fusion von 3sat und Arte. Doch zunächst zum Kommentar.
Thema des Tages: Die Nato will massiv aufrüsten. Das hätte für Deutschland und die Bundeswehr weitreichende Folgen
Soldat der deutschen Fallschirmjägertruppe in Saarlouis
Imago
Vielen Deutschen dürfte bewusst sein, dass die Zeitenwende stockt. Was die wenigsten wissen dürften, ist, dass bald noch ganz andere Anstrengungen auf Deutschland zukommen.
Denn die Nato will ihre Truppen in Europa massiv aufstocken. Laut einem aktuellen internen Dokument, aus dem die Zeitung «Die Welt» zitierte, soll die Zahl der Kampfbrigaden um mindestens vierzig Stück erhöht werden. Es sollen mehr Flugzeuge, mehr Flugabwehrkanonen, mehr Waffen angeschafft werden. Insbesondere für die Bundeswehr hätte das weitreichende Folgen.
Das Heer müsste innerhalb weniger Jahre 25 000 zusätzliche Soldaten bereitstellen. Im Vergleich zu Russland ist das zwar verschwindend wenig, plant Putin doch mit einer Armee von 1,5 Millionen Soldaten. Aber für Deutschland wäre das eine immense Herausforderung. Es gelingt dem Land ja im Moment noch nicht einmal, das derzeitige Personalsoll zu erfüllen, trotz Zeitenwende, grossformatigen Werbekampagnen und einem Verteidigungsminister, der von «Kriegstüchtigkeit» spricht.
Masse zählt
Wer meint, die Pläne seien nicht notwendig und gingen zu weit, sollte sich vor Augen führen, was in der Ukraine geschieht. Schon seit zwei Jahren arbeitet die Allianz an einem neuen Verteidigungsplan. Der bisherige basierte auf der Annahme, die Nato könnte bei einem russischen Angriff unter langsamem Zurückweichen Gebiete preisgeben, um sie später mit bis dahin herangeführten Reserven wieder zu befreien.
Dann taten die Russen etwas, das die Nato zum Umdenken zwang: Sie massakrierten 2022 Hunderte Zivilisten in Butscha und Irpin und verschleppten Tausende ukrainische Kinder. Seitdem ist klar, dass die Nato von Anfang an «keinen Zentimeter Boden» preisgeben darf. Dafür braucht man weit mehr Truppen, als bisher für die Verteidigung gegen Russland veranschlagt wurden. «Mass matters», Masse zählt.
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Das war der Bundesregierung anfangs durchaus bewusst, siehe Zeitenwende. Doch von dem bisherigen Elan ist kaum noch etwas übrig geblieben. Wie der einsame Rufer in der Wüste mahnte Verteidigungsminister Boris Pistorius von der SPD lange entschiedenere Schritte an: die Einführung einer Auswahlwehrpflicht, um mehr Soldaten zu rekrutieren, und deutlich mehr Geld für Waffen, Munition und andere Ausrüstung.
Scholz lässt Pistorius auflaufen
Doch Bundeskanzler Olaf Scholz, die Linken in der SPD sowie Grüne und FDP liessen ihn aus unterschiedlichen Gründen auflaufen. Die Vorschläge für eine neue Wehrpflicht haben sie kassiert, weil angeblich keine Notwendigkeit dafür besteht. Der Wehretat ist bei gut 50 Milliarden Euro eingefroren, obwohl die Regierung im nächsten Jahr so viel Geld ausgeben will wie nie zuvor.
Zum Beispiel will die Bundesregierung allein im nächsten Jahr 17 Milliarden Euro aufwenden, um die EEG-Umlage (Erneuerbare-Energien-Gesetz) erstmals aus dem Kernhaushalt zu finanzieren. Auch der Sozialhaushalt weist keine Anzeichen von Schrumpfungen auf.
Angesichts der momentanen Sicherheitslage sind das die falschen Prioritäten. Die Bundeswehr weiss schon länger nicht, wie sie all die Zusagen der deutschen Regierungskoalition bei der Nato noch erfüllen soll. Wer so regiert, setzt die Sicherheit des Landes aufs Spiel.
All das ist schon seit Monaten so. Durch die durchgestochenen Verteidigungspläne der Nato wird die Dringlichkeit nun aber noch umso grösser.
Die Bürger haben das durchaus erkannt. Sie würden die EEG-Umlage wohl wieder selbst bezahlen, wenn sie wüssten, dass das so gesparte Geld in ihre Verteidigung geht. Sie sind bereit, für ihre Sicherheit persönliche und finanzielle Abstriche in Kauf zu nehmen. Umfragen belegen, dass es eine Mehrheit für höhere Verteidigungsausgaben und sogar eine Wehrpflicht gibt. Angesichts der Nato-Pläne steht Deutschland ohnehin eine abermalige Debatte darüber bevor.
Die Koalition verweigert sich der Realität
Doch so wie sie sich bei der Migration lange der Realität verweigert haben, zögern Scholz und seine Koalitionspartner auch bei diesen Themen.
Selbst der Verteidigungsminister schweigt seit Wochen. Kein Wort mehr über Kriegstüchtigkeit oder die notwendige Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen. Manche in Berlin sagen, dass Pistorius sich bereithält als Kanzlerkandidat für eine eventuelle Neuwahl im kommenden Frühjahr und bis dahin den linken Parteiflügel nicht weiter gegen sich aufbringen will. Andere meinen, er habe die Pläne der Nato sogar selbst durchgestochen, um den Druck auf Scholz und die Koalition zu erhöhen.
Was auch immer der Grund für sein Schweigen ist, er sollte es jetzt brechen. Denn die Putin-Freunde des BSW und der AfD sind schon seit längerem laut und deutlich zu vernehmen. Ihnen sollte man die Debatte über die deutsche Sicherheit nicht allein überlassen

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