Donnerstag, 2. Dezember 2021

Zudem können auch Geimpfte und Genesene das Virus verbreiten. Das Risiko ist zwar deutlich geringer, aber Ethik sollte keine Frage der Wahrscheinlichkeitsrechnung sein. Existiert ein kategorischer Imperativ, den Nächsten zu schützen, dann müssten sich alle zu Hause einschliessen, um dem Schreckgespenst Omikron zu trotzen.

 

Die Würde des Menschen ist unantastbar
Manche Probleme lassen sich pragmatisch, nach dem erwartbaren Nutzen beurteilen. Man kann für eine teilweise Stilllegung des öffentlichen Lebens Aufwand und Ertrag kalkulieren. Kompromisse sind möglich: ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger, je nach Verhandlungsergebnis.
Wo es aber wie in der Debatte um die allgemeine Impfpflicht primär um ethische Fragen geht, wird eine prinzipielle Wertentscheidung gefordert. Muss ein Individuum den Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit dulden, wenn es die Mehrheit für angemessen hält? Hier gibt es kein «mehr oder weniger», sondern nur ein Bekenntnis auf der Basis einer persönlichen Haltung.
Lockdown und Impfzwang sind daher prinzipiell geschieden. Sie gehören unterschiedlichen Sphären an, auch wenn sie in der gegenwärtigen Debatte gedankenlos vermischt werden getreu der Devise: Die Zahlen müssen runter, jetzt muss irgendetwas geschehen. Ungeduld und Angst aber sind schlechte Ratgeber.
Die physische Integrität eines Menschen, die Würde des Individuums und sein Recht auf Selbstbestimmung dürfen nicht aus pragmatischen Erwägungen zur Disposition gestellt werden. Sie gelten absolut, unabhängig von der Mehrheitsmeinung. Das trifft besonders auf medizinische Eingriffe zu. Die Auswüchse staatlicher Zwangsmedizin waren in der Vergangenheit zu barbarisch, als dass das Gespür für die Anfänge solcher Fehlentwicklungen verlorengehen darf.
Die Diskussion über die Pandemie wurde aus guten Gründen bisher im hohen Ton des Unbedingten geführt. Der Lebensschutz gelte absolut, hiess es, man müsse um jedes Menschenleben kämpfen und deshalb Einschränkungen für die Mehrheit in Kauf nehmen. Diese Überzeugung bildet die Grundlage für die Lockdown-Politik.
Der utilitaristische Gedanke des grösstmöglichen Glücks für die grösstmögliche Zahl war also bisher verpönt. Jetzt hält er dennoch Einzug mit dem Argument, Ungeimpfte hätten die moralische Pflicht, sich impfen zu lassen, um die Mehrheit zu schützen.
Dabei wird sehr freihändig mit dem Wörtchen Moral hantiert. Natürlich ist der Einzelne für das Wohlergehen aller in gewissem Umfang mitverantwortlich. Daher sollte sich jeder unbedingt impfen lassen. Verantwortung setzt jedoch Freiheit voraus. Eine Impfpflicht hebelt die moralische Kategorie der Verantwortung gerade aus und ersetzt sie durch schlichten Zwang. Dabei spielt es keine Rolle, ob jemand zum Impftermin gezerrt wird oder nur eine Busse aufgebrummt bekommt.
Zudem können auch Geimpfte und Genesene das Virus verbreiten. Das Risiko ist zwar deutlich geringer, aber Ethik sollte keine Frage der Wahrscheinlichkeitsrechnung sein. Existiert ein kategorischer Imperativ, den Nächsten zu schützen, dann müssten sich alle zu Hause einschliessen, um dem Schreckgespenst Omikron zu trotzen.
Mit dem Wort Moral wird sehr sorglos umgegangen
Man verlangt von Impfmuffeln, einen Eingriff zu akzeptieren, selbst wenn sie darin keinen persönlichen Nutzen erkennen, weil sie aufgrund von Alter und Gesundheitszustand einen schweren Krankheitsverlauf kaum fürchten müssen. Das Opfer ist nach Ansicht der Mehrheit klein im Vergleich zum Nutzen für die Allgemeinheit. Lässt man das Nutzenkalkül in Fragen zu, die in letzter Konsequenz über Leben und Tod entscheiden, begibt man sich auf abschüssiges Terrain.
Dann ist die Triage, die Selektion der Patienten nach Heilungschancen oder Impfstatus, plötzlich nicht nur als Ultima Ratio denkbar. Sie ist bis jetzt als reguläres Instrument tabu. Nur wenige verlangen, dass einem Alten oder Ungeimpften die Verlegung auf die Intensivstation verweigert wird. Schliesslich hat ein Lungenkrebspatient selbst dann Anrecht auf Behandlung, wenn er zuvor geraucht hat. Der hippokratische Eid gilt auch bei den Unvernünftigen, und bei den Alten und Schwachen erst recht.
Fällt das Tabu des medizinischen Utilitarismus, dann ist der Weg nicht mehr weit bis zu einem anderen Szenario. Man könnte argumentieren, in diesem Fall sämtliche Einschränkungen bis hin zur Zertifikatspflicht aufzugeben, weil sich mit der Triage die Belegung der Spitäler beliebig steuern lässt. Die Notwendigkeit, eine Überfüllung der Intensivstationen und damit den Kollaps des Gesundheitswesens zu vermeiden, ist das zentrale Argument für Restriktionen. Es verlöre erheblich an Überzeugungskraft.
Nur im Ausnahmezustand kann die Gemeinschaft fast jedes Opfer verlangen, und sie hat das im blutigen 20. Jahrhundert oft genug getan. Aber befinden wir uns tatsächlich und nicht nur metaphorisch bereits im Ausnahmezustand? Gilt schon der Grundsatz «Not kennt kein Gebot»? Dann wäre es legitim, sich am Nutzen für die grösste Zahl von Menschen zu orientieren und eine Impfpflicht zu verhängen.
Wir sind bisher gut damit gefahren, das blanke Nutzenkalkül in der Medizin abzulehnen. Wir haben keine Triage eingeführt und die Alten nicht ihrem Schicksal überlassen, nur weil es für die Mehrheit bequemer gewesen wäre. Eine solche Politik ist anstrengender, aber humaner, weil sie auf die Vielfalt der Lebensentwürfe und die Freiheit des Individuums Rücksicht nimmt. Zugleich dient sie dem gesellschaftlichen Frieden in einer Zeit, in der wegen Corona die Zwietracht ohnehin überhandzunehmen droht.
 

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