Dienstag, 4. Januar 2022

Ein Grund dafür liegt auch in der technologischen Entwicklung. Mehrere Länder haben neue Mini-Atomreaktoren ("Small Modular Reactors", SMRs) entwickelt, die das Risiko- und Müllproblem stark verringern. Nach Angaben der IAEA befinden sich derzeit 84 SMR-Reaktoren in 18 Ländern in der Entwicklung oder im Bau. Deutschland, das einst in der Atomtechnik weltführend war und heute gerne Klimaretter sein will, sieht plötzlich ziemlich alt aus. Macron bringt Deutschlands Grüne in Erklärungsnot.

 PERSON DER WOCHE

Person der WocheMacron hat Scholz über den Tisch gezogen

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Macron und Scholz bei ihrem ersten gemeinsamen EU-Gipfel.

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)



Die EU-Einstufung von Kernenergie als klimafreundlich stellt nicht nur die Ampel-Regierung auf die Probe: Die Entscheidung ist auch ein Sieg Emmanuel Macrons. Frankreichs Präsident legt die Schwächen der deutschen Energiepolitik bloß.

Die Grünen in der Berliner Regierung toben. Die EU-Kommission folgt der Position Frankreichs und will Gas- wie Atomstrom als klimafreundlich einstufen. Für Steffi Lemke (neue Bundesumweltministerin) und Robert Habeck (neuer Wirtschafts- und Klimaschutzminister) ein Unding. Die Grünen haben jahrzehntelang für den Ausstieg aus der Atomenergie gekämpft, Deutschland schaltet ein Atomkraftwerk nach dem andern ab und nun wird diese Politik von den europäischen Partnern offen diskreditiert.

Tatsächlich ist die Brüsseler Entscheidung ein dreifacher Paukenschlag für die neue Ampelregierung in Berlin.

Macron markiert sein neues Revier

Erstens wird der Vorgang in ganz Europa als ein machtpolitischer Sieg für Emmanuel Macron gewertet. Frankreich tritt seit Monaten für eine offensive Kernkraftpolitik ein, denn Atomstrom sei billig, versorgungsstabil und auch noch klimafreundlich. Die neue, grün mitregierte Bundesregierung sieht das anders und will neben der Kohle - auch aus der Atomenergie komplett aussteigen. In dem Richtungsstreit hat Paris nun einen wichtigen Etappenerfolg errungen. Denn nicht nur die EU-Kommission, auch viele EU-Nachbarstaaten sind für die Nutzung der Atomenergie und aufseiten Frankreichs. Macron hat diese Mehrheit just in dem Moment mobilisiert, da Berlin politisch geschwächt erscheint. Nach dem Abtritt Angela Merkels ist die neue Regierung noch nicht schlagkräftig formiert, der neue Bundeskanzler wird in Paris als schwächer eingeschätzt als Merkel und die Koalition gilt in dieser Frage als labil.

Dabei hatte sich die neue Bundesregierung im Dezember offiziell noch vehement gegen eine solche Einstufung ausgesprochen. Die neue Außenministerin Annalena Baerbock hatte das Thema bei ihren Antrittsbesuchen in Paris und Brüssel gezielt adressiert. Sie wirkt nun diplomatisch regelrecht düpiert. Die CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber feixt: "Die neue Regierung hat ihre erste Bewährungsprobe in Brüssel gehörig verpatzt." Die linksliberale Zeitung "Der Standard" in Wien kommentiert lakonisch: "Die Franzosen bekommen den Freibrief." Unter französischen Diplomaten hört man, dass Macron mit der Atomfrage in Europa zur politischen Leitfigur aufsteigen wolle. Nach dem Abgang von Merkel dränge er in die Führungsrolle der EU und demonstriere dies an der Atomfrage. Frankreich hat seit dem 1. Januar 2022 den EU-Ratsvorsitz inne und zeige Berlin gleich einmal, wo es lang gehe. Das Fazit der Machtpolitiker lautet: "Macron hat Scholz demonstrativ über den Tisch gezogen." Und Ursula von der Leyen habe ihm dabei gerne geholfen.

FDP lobt "technologieoffene" EU

Zweitens hat die Entscheidung der EU-Kommission das Zeug, eine erste Koalitionskrise in Berlin auszulösen. Denn die Grünen und Teile der SPD wüten zwar über die Initiative aus Brüssel und Paris. Olaf Scholz aber gibt sich bedeckt und ist mit dem Kompromiss, dass wenigstens auch deutsche Gaskraftwerke als nachhaltig eingestuft werden sollen, zufrieden. Das aber sehen die Grünen ganz anders. Die FDP wiederum findet die Entscheidung Brüssels gar nicht so falsch. Ein amüsierter Bundestags-Vizepräsident Wolfgаng Kubicki empfiehlt den Grünen, bittersüß: "Du bist übrigens kein guter Europäer, wenn du nur Entscheidungen akzeptierst, die zu dir passen." Während die Grünen die Brüsseler Entscheidung bekämpfen, revidieren oder blockieren wollen, erklärt Lukas Köhler, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP, unmissverständlich, eine Blockade sei keine Option: "Es wird keine qualifizierte Mehrheit gegen den Vorschlag der Kommission zur Kernenergie geben."

Die Liberalen hatten sich immer für "Technologieoffenheit" in der Energiewende ausgesprochen und kritisiert, dass die Grünen zu viel abschalten und verbieten wollten. "Deutschland braucht realistischerweise moderne Gaskraftwerke als Übergangstechnologie, weil wir auf Kohle und Atomkraft verzichten", gibt Finanzminister Christian Lindner zu Protokoll und bringt mit dem Lob für Brüssel die Grünen zusätzlich auf die Palme. Während Habeck & Co. über Brüssels Atom- und Gas-Irrweg schimpfen, findet der FDP-Chef: "Ich bin dankbar, dass die Kommission unsere Argumente anscheinend gehört hat."

Deutschland beschreitet Sonderweg

Drittens entlarvt der Brüsseler Vorgang grundlegende Probleme der deutschen Energiepolitik. Deutschlands Versuch, aus Öl, Kohle und Atom gleichzeitig auszusteigen, wird im Ausland zusehends als riskantes Unterfangen angesehen. Das Wall Street Journal kommentierte den deutschen Weg bereits als "dümmste Energie- Politik der Welt". Deutschland habe schon jetzt die höchsten Strompreise der Welt, riskiere seinen industriellen Standort, erfülle aber trotzdem seine Klimaziele nicht. In weiten Teilen Europas wird Deutschlands rigorose Energiewende als unausgegorenes Experiment angesehen, dem man weniger folgen will als dem französischen Vorbild.

"Kernenergie ist unverzichtbar", kommentiert daher die italienische "La Stampa". Die tschechische "Lidove Noviny" sieht gar eine "unerbittliche Logik für die Kernenergie". Mit den Niederlanden, Polen, Tschechien und Frankreich wollen gleich vier unmittelbare Nachbarn Deutschlands die Nutzung der Kernenergie forcieren. Die niederländische Regierung hat kurz vor Weihnachten angekündigt, zwei neue Atomkraftwerke zu bauen und das einzige bestehende länger in Betrieb zu halten.

Dazu meldet die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien einen globalen Nachfrageschub nach Atomkraftwerken - konkret, dass derzeit 52 neue Atomkraftwerke im Bau seien. Alleine China baut 13 neue Kernkraftwerke, Indien hat 7 neue Meiler im Bau, Südkorea baut 4 neue Kernkraftwerke.

Doch nicht nur die Wirtschaftsgroßmächte investieren massiv, auch kleinere Länder entscheiden sich für den Neu-Einstieg, darunter die Türkei, die Arabischen Emirate, Polen, Bangladesch, Ägypten, Jordanien, Nigeria und Vietnam. Laut IAEA wollen derzeit 28 Staaten neu in die Kernkraft einsteigen. Im Rahmen des globalen Comebacks hat sich auch Japan für eine Rückkehr zur Atomkraft entschieden.

Macron und IAEA einig

Im "High-Case-Szenario" ihres neuen Ausblicks geht die IAEA davon aus, dass sich die weltweite Kernkraftwerkskapazität bis 2050 auf 792 Gigawatt glattweg verdoppeln wird, gegenüber 393 GW im vergangenen Jahr. "Die neuen IAEO-Prognosen zeigen, dass die Kernenergie eine unverzichtbare Rolle bei der kohlenstoffarmen Energieerzeugung und dem Erreichen der Klimaziele spielen wird", verkündet IAEA-Generaldirektor Rafael Mariano Grossi.

Die Zahlen der IAEA, die Entscheidung der EU und die Initiative Macrons erhöhen den Druck auf die deutsche Energiewendepolitik. Denn ein Hauptgrund für das verblüffende Comeback der Kernenergie ist ausgerechnet die globale Klimadebatte, bei der die deutsche Ampelregierung so gerne Meinungs- und Handlungsführerschaft übernehmen würde. Grossi kritisiert Deutschlands Ausstieg hingegen als einen "einmaligen Sonderweg", Macron argumentiert ähnlich und behauptet, dass Europa die CO2-Neutralität bis 2050 "nicht ohne die Kernkraft erreichen werde".

Kernkraft-Comeback ohne Deutschland

Macron weiß mit seinem Vorstoß nicht nur viele EU-Staaten, sondern auch die Mehrheit der Franzosen hinter sich. Er macht mit dem Thema Atomkraft sogar offensiv Wahlkampf. "Frankreich hat Glück, denn Frankreich hat Atomkraft", betont Macron mit Blick auf die CO2-Emissionen. Selbst die französischen Grünen haben den früher vehement geforderten Atomausstieg inzwischen aufgegeben: "Niemand sagt, dass wir morgen die Atomkraftwerke runterfahren", meint der grüne Präsidentschaftskandidat Yannick Jadot zum Erstaunen seiner deutschen Kollegen.

Ein Grund dafür liegt auch in der technologischen Entwicklung. Mehrere Länder haben neue Mini-Atomreaktoren ("Small Modular Reactors", SMRs) entwickelt, die das Risiko- und Müllproblem stark verringern. Nach Angaben der IAEA befinden sich derzeit 84 SMR-Reaktoren in 18 Ländern in der Entwicklung oder im Bau. Deutschland, das einst in der Atomtechnik weltführend war und heute gerne Klimaretter sein will, sieht plötzlich ziemlich alt aus. Macron bringt Deutschlands Grüne in Erklärungsnot.

Quelle: ntv.de

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