Die EU will neue Atomkraftwerke unter bestimmten Bedingungen als umweltfreundlich einstufen. Die Bundesregierung spricht von Greenwashing, wird den Beschluss aber vermutlich nicht verhindern können. Denn im Angesicht der Klimakrise erlebt die Technologie eine Renaissance. Der neue CDU-Chef Friedrich Merz flirtet öffentlich genauso damit wie der frühere italienische Innenminister Matteo Salvini. In Frankreich hat Staatschef Emmanuel Macron sogar schon eine neue Kernkraft-Ära angekündigt, in den USA sind bereits 18 Projekte in Planung. Sie setzen auf die sogenannte SMR-Technologie, Small Modular Reactors. Denn sie verspricht kleine, günstige und vielfältig einsetzbare Reaktoren, die CO2-arm, aber zuverlässig Energie produzieren. So wie in Russland, wo ein schwimmendes AKW bereits ein Dorf in Sibirien versorgt.
Gar keine schlechte Idee, oder? Findet Christoph Pistner nicht, wie das Mitglied der Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) im ntv-Podcast "Klima-Labor" deutlich macht. Der Physiker des Freiburger Öko-Instituts hat die SMR-Technologie für das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) untersucht und keine überzeugenden Argumente entdeckt, im Gegenteil: Die bisherigen SMR-Ideen sind ihm zufolge genauso schmutzig wie konventionelle Atomkraftwerke, teurer sogar als erneuerbare Energien und vor allem sind sie vermutlich erst dann einsatzbereit, wenn es schon zu spät ist.
ntv.de: Was wissen Sie über die SMR-Technologie, was der amerikanische, der französische und der russische Präsident nicht wissen?
Christoph Pistner: Ich weiß nicht, ob ich etwas weiß, was Joe Biden, Emmanuel Macron und Wladimir Putin nicht wissen. Vielleicht geht es eher um eine Bewertung dessen, was wir wissen. Mein Eindruck ist, dass sich die Herren sehr viel von der SMR-Technologie versprechen. Diese Versprechungen stehen auch von den Entwicklern im Raum. Die Frage ist aber, ob sie tatsächlich gehalten werden. Wir hören seit vielen Jahrzehnten davon, bis heute ist aber nichts davon realisiert.
Was genau ist denn SMR? Worum geht es bei Small Modular Reactors?
Das ist tatsächlich gar nicht so einfach, denn es gibt keine international einheitliche Definition, was ein kleiner modularer Reaktor sein soll. Einig sind sich alle, dass sich "klein" auf eine elektrische Leistung von unter 300 Megawatt bezieht. Darunter würden aber zum Teil auch frühe Kernreaktoren der ersten Generation fallen, wie sie weltweit heute noch in Betrieb sind. Hinter dem Punkt "modular" steckt die Idee, dass diese Anlagen zentral hergestellt und dann nur noch zum Einsatzort transportiert werden müssen. Ob das jedoch funktioniert, weiß keiner.
Sind diese Reaktoren auch räumlich kleiner? Jeder hat vermutlich Tschernobyl vor Augen, aber Russland hat jetzt einen an Bord eines Schiffes.
Ein Atomreaktor als solcher ist nicht sehr groß. Ein großer Unterschied zwischen der Atomkraft und konventionellen Energien ist, dass wir durch die Atomspaltung sehr, sehr viel Energie auf sehr kleinem Raum freisetzen können. Was ein Atomkraftwerk groß macht, ist alles, was man um den Reaktor herumbauen muss.
Die bekannten Türme? Die Kühlung?
Kühlung, Sicherheitssysteme, Abschirmung von radioaktiver Strahlung und die Hilfssysteme, die ich brauche, wenn ich ein Brennelement auswechseln oder das Kühlsystem reinigen muss.
Und das alles brauche ich bei kleinen Reaktoren nicht?
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Doch, natürlich. Aber ein "kleiner" Reaktor mit geringerer Leistung hat einen kleineren Reaktorkern. Dadurch können auch meine Sicherheitssysteme abgespeckt oder kleiner sein, bis hin zu dem Punkt, wo ich so einen Reaktor mit passiven Systemen wie der Luft kühlen könnte und keine großen Kühlmittelvorräte oder Pumpen mehr brauche, um ihn zu kontrollieren.
Der russische Reaktor ist bereits im Einsatz. Der frühere Eisbrecher steht in Sibirien, um eine kleine Ortschaft mit Energie zu versorgen. Wie wird das dort geregelt?
Der russische basiert auf Konzepten, die es schon lange gibt, auf U-Boot-Reaktoren. Wir haben atomar betriebene U-Boote im militärischen Bereich und vor allem mit Eisbrechern auch Schiffe. Die Reaktoren müssen aufgrund des Einsatzzwecks sehr kompakt sein. Im Prinzip hat man ein solches System auf ein Schiff gepackt, um es mobil vom Herstellungsort zum Einsatzort bringen zu können. Vor Ort wurde das Schiff verankert, Stromleitungen wurden an Land gelegt und Energie bereitgestellt. Ansonsten ist das eher ein klassischer Druckwasserreaktor, der mit ähnlichen Systemen ausgestattet ist wie eine heutige große Anlage - nur eben aufgrund der Leistung kleiner skaliert.
Aber das ist doch eine super Idee, jetzt haben die Leute in der Region eine sichere Stromversorgung. Warum sind sie dagegen?
Das Problem ist letzten Endes dasselbe wie mit der Kernenergie heute auch: Dieser Reaktor ist ein Reaktor, bei dem man sehr genau die Sicherheit untersuchen muss. Kann es zu schweren Unfällen kommen, bei denen Radioaktivität freigesetzt wird? Dann erzeugt auch dieser Reaktor radioaktive Abfälle. Es stehen Fragen der nuklearen Nichtverbreitung im Raum. Reaktoren produzieren Plutonium, sie benötigen angereichertes Uran für ihren Einsatz. Das sind Schlüsseltechnologien, die man für Kernwaffen benötigt. Auch bei kleinen modularen Reaktoren wird in Zukunft die Frage im Raum stehen, wie wir kontrollieren, dass Materialien und Technologien nicht missbraucht werden? Und schließlich sollte man die Kostenfrage nicht vergessen. Der russische Reaktor ist deutlich teurer gewesen als die großen, die heute am Markt sind.
Dieser kleine Reaktor ist teurer als ein klassisches Atomkraftwerk, das in Deutschland steht?
Small Modular Reactors (SMR) sind Kernkraftwerke mit geringer Leistung, deren Entwicklung bis in die 1950er Jahre zurückgeht. Derzeit erfährt das Konzept wieder größere Aufmerksamkeit, da sie als sichere und klimafreundliche Stromerzeuger propagiert werden. Im Gutachten des Öko-Instituts werden sie als Reaktoren definiert, bei denen ein einzelner eine elektrische Leistung von weniger als 300 Megawatt elektrisch (MWe) oder eine thermische Leistung von weniger als 1.000 Megawatt thermisch (MWth) aufweist. Dabei kann es sich sowohl um wassergekühlte als auch um sonstige (nicht-wassergekühlte) Reaktorkonzepte handeln.
Bezogen auf die installierte elektrische Leistung, ja. Der Preis für die individuelle Anlage ist geringer. Aber wenn Sie berücksichtigen, dass Sie drei, vier oder fünf kleine Anlagen brauchen, um dieselbe Menge Strom zu produzieren wie eine große, ist das System wesentlich teurer.
Können Sie Zahlen nennen?
Die gibt es noch nicht, weil diese Systeme nirgendwo am Markt als kommerzielle Systeme eingesetzt werden. Das, was wir in Russland sehen, ist eine Nischen-Anwendung, die man explizit für sehr abgelegene Regionen haben wollte.
Aber Russland plant, die Technologie ins Ausland zu exportieren.
Genau. Aber diesen Planungen liegt zugrunde, dass ich diese Systeme nicht mehr einzeln herstelle, sondern irgendwo in einer seriellen Fabrikation mit sehr hohen Stückzahlen, um den Preis zu drücken. Das ist aber extrem fragwürdig.
Also, um mal so eine Messlatte zu haben: So ein kleines, modulares Kraftwerk soll etwa eine Milliarde Euro kosten. Im Vergleich dazu kosten konventionelle Kraftwerke 27 Milliarden Euro. Das bezieht sich auf Hinkley Point C, das gerade in Großbritannien gebaut wird. Aber Sie bezweifeln, dass das stimmt?
Für diese eine Milliarde haben wir einfach bis heute keine prototypischen Zahlen. Wenn wir uns den russischen Reaktor anschauen: Ursprünglich ist kalkuliert worden, dass man die Kilowattstunde elektrische Leistung für 2000 Dollar bauen kann. Am Ende hat er 11.000 Dollar gekostet und war fünfmal so teuer wie ursprünglich geplant. Und damit eben auch teurer als die Kilowattstunde elektrische Leistung, die wir heute in einem Großkraftwerk bauen würden.
Dann ist er vermutlich auch sehr viel teurer als zum Beispiel Kohlestrom?
Ja, Kernenergie ist heute deutlich teurer als Kohleverstromung, das sehen wir bei den großen Anlagen. Großbritannien musste Hinkley Point C eine Abnahmegarantie über 30 Jahre geben, um den Strom für 11 bis 12 Cent die Kilowattstunde abzukaufen. Das ist wesentlich mehr als das, was wir am Großmarkt sehen und auch wesentlich mehr, als wir heute zahlen, um Strom aus Fotovoltaik oder Windkraft zu produzieren. Und das für eine heute im Bau befindliche Anlage, wo man eigentlich über die nächsten 30 Jahre weitere Kosteneinsparungen erwarten würde.
Jetzt sind wir verwirrt. Wenn Kernkraft die teuerste Technologie ist, was spricht dann für diese kleinen Atomkraftwerke?
Was hilft gegen den Klimawandel? Klima-Labor ist der ntv-Podcast, in dem Clara Pfeffer und Christian Herrmann Ideen und Behauptungen prüfen, die toll klingen, es aber selten sind. Klimaneutrale Unternehmen? Gelogen. Klimakiller Kuh? Irreführend. Aufforsten? Verschärft Probleme.
Das Klima-Labor - jeden Donnerstag eine halbe Stunde, die informiert, aufräumt und Spaß macht. Bei ntv und überall, wo es Podcasts gibt: Audio Now, Apple Podcasts, Amazon Music, Google Podcasts, Spotify, RSS-Feed
Von den Herstellern werden unterschiedliche Argumente gebracht. Zum einen gehen sie davon aus, dass sie den Preis so weit drücken können, dass sie doch ökonomisch konkurrenzfähig produzieren können. Das kann man anzweifeln. Das zweite ist, dass erneuerbare Energien nicht rund um die Uhr gleichmäßig zur Verfügung stehen. Wir haben fluktuierende Energieträger wie Wind und Sonne und brauchen Ausgleichssysteme. Wir brauchen aber Ausgleichsmechanismen, die sich sehr schnell hoch- und runterfahren lassen und anpassen können an das, was aus regenerativen Energien erzeugt wird. Auch da sieht die Atomkraft eigentlich nicht gut aus.
Weil es sehr lange dauert, so ein Kraftwerk wieder hochzufahren?
Die Kosten der Kernenergie werden wesentlich dadurch dominiert, dass wir am Anfang sehr viel Geld ausgeben müssen, um ein Kraftwerk zu bauen. Aber wenn wir dieses Kraftwerk nicht mehr 80 bis 90 Prozent der Zeit nutzen, sondern nur noch 20 Prozent, weil wir ansonsten ausreichend erneuerbare Energien haben, produziert es natürlich viel weniger Strom, der dann noch mal teurer wird.
Könnte man das Kraftwerk nicht laufen lassen und den Strom ins Ausland exportieren?
Natürlich wird man in einem zukünftigen Energiesystem große Netze brauchen, die einen Ausgleich der Erzeugung und des Verbrauchs über größere Regionen sicherstellen. Wir reden in Deutschland über Netzausbau und über Transporte ins Ausland, damit wir den Effekt nutzen können, dass der Himmel nicht überall gleichzeitig bewölkt ist. Aber auch dann wird die Frage sein: Zu welchen Kosten produziere ich den Strom, den ich ausgleiche? Wenn ich eine günstige Produktion über Fotovoltaik und Windkraft habe, gleiche ich das damit aus.
Das zweite große Gegenargument von Ihnen in der Studie ist neben den Kosten die Sicherheit. Wie sieht es damit aus?
Viele der kleinen Reaktoren werben damit, dass sie sicherer sind als heutige Kernkraftwerke. Das ist grundsätzlich denkbar: Wenn Sie einen kleineren Reaktor haben, erzeugt dieser weniger Leistung im Kern und weniger Wärme, die Sie nach außen abführen müssen. Sie können dann eventuell passive Kühlsysteme verwenden und dadurch möglicherweise die Sicherheit erhöhen. Ob das tatsächlich so ist, wissen wir nicht. Dazu müssten wir erst mal ein konkretes Design auf dem Tisch haben, für das detaillierte Sicherheitsuntersuchungen vorliegen.
Aber Sie haben doch vorhin gesagt, dass dieses Konzept auf Atom-U-Booten basiert. Die sind ja schon eine ganze Weile im Einsatz.
Natürlich gab es auch im Bereich der Atom-U-Boote Störfälle, Zwischenfälle und Unfälle. Die sind allerdings nicht so gut dokumentiert wie im kommerziellen Bereich Tschernobyl und Fukushima. Aber letzten Endes handelt es sich dabei um einen relativ konventionellen Druckwasserreaktor und die haben bekannte Sicherheitsprobleme: Auch nach der Abschaltung des Reaktors wird kontinuierlich über einen sehr langen Zeitraum Wärme produziert, die Sie abführen müssen. Wenn Sie das nicht schaffen, passiert das, was in Fukushima passiert ist: Der Reaktorkern heizt sich auf, der Brennstoff kann schmelzen und es kann massiv Radioaktivität freigesetzt werden.
Jetzt könnte man zynisch natürlich sagen, dass es kleine Reaktoren sind und die Gefahr, dass es zu einem zweiten Fukushima kommt, gering ist.
Klar, die einzelne Anlage ist kleiner als ein großes Kraftwerk. Aber wenn Sie diese Anlagen einsetzen wollen, um damit wirklich an der Energiewende zu arbeiten und CO2-armen Strom zur Verfügung zu stellen, brauchen Sie entsprechend mehr Anlagen. Das heißt, Sie haben dann eben statt der heutigen knapp 400 Anlagen weltweit das zehn- oder zwanzigfache.
Das dritte Problem, wir haben es schon kurz angerissen, ist der Abfall. Kann man denn bei Kernkraft überhaupt von sauberer Energie sprechen, solange dieses Problem besteht?
Aus meiner Sicht ganz klar nicht. Auch SMR werden hochradioaktive Abfälle produzieren. Bei all den Systemen, die in zehn, vielleicht zwanzig Jahren am Markt zur Verfügung stehen könnten, reden wir über Systeme, die vergleichbar mit heutigen sind. Bis heute gibt es weltweit noch kein Endlager für Atommüll. Einige Staaten sind dabei, solche Endlager zu errichten, andere Staaten sind dabei, zu suchen.
Und trotzdem arbeiten Frankreich, die USA und Russland an SMR-Konzepten. Warum?
Das sind natürlich Staaten, die traditionell eine sehr hohe Abhängigkeit von der Kernenergie haben. Die haben eine etablierte Industrie, die ihr Produkt weiter anbieten möchte.
Weil man die Technologien nicht verfallen lassen möchte?
Also, man muss klar sagen: Kleine, modulare Reaktoren in dem Sinne, wie sie oft diskutiert werden, liegen eigentlich nicht vor. Wir haben über dieses Beispiel Russland geredet, aber das ist ja kein kommerziell konkurrenzfähiges System, das sie in der Fläche einsetzen würden. Systeme wie NuScale, die in den USA diskutiert werden oder Systeme, die in China entwickelt werden, könnten irgendwann kommen, werden aber sicherlich noch 10 bis 15 Jahre Entwicklungsarbeit brauchen. Bis man dann eben große Stückzahlen produziert, sind leicht 20 bis 25 Jahre rum. Bis dahin müssen wir eigentlich mit der Energiewende schon durch sein.
Mit Christoph Pistner sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Interview erschien erstmals am 25. November 2021 und ist zur besseren Verständlichkeit gekürzt
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