Mittwoch, 26. Januar 2022

Und darauf musste er reagieren. Putin ist klar, dass Russland mit seiner derzeitigen wirtschaftlichen Stärke kaum mit der EU mithalten kann und für Länder wie die Ukraine oder Georgien weniger attraktiv ist. Deshalb greift er auf die Sicherheitspolitik zurück. So will er verhindern, dass dort Politiker an die Macht kommen, die ihre Länder in die westlichen Institutionen führen wollen. Die Konflikte im Donbass, im georgischen Abchasien oder auch um Transnistrien in Moldawien sind Mittel, um zu verhindern, dass sich die dortigen politischen Führungen grundsätzlich dem Westen annähern.

 Interview zum Ukraine-Konflikt

"Merkels Abtritt war für Putin ein Schlüsselmoment"

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Trotz aller Differenzen: Merkel und Putin hatten ein gutes Verhältnis. Ihr Abtritt sei ein Schlüsselmoment für den russischen Präsidenten gewesen, sagt Experte Härtel.

(Foto: picture alliance/dpa/Sputnik)


Putin sei ein realistisch denkender Außenpolitiker, sagt Experte André Härtel. Sein Ziel: Die Kontrolle über Länder auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Einen Masterplan habe der russische Präsident aber nicht. Vielmehr sei der Moment für eine Eskalation gerade günstig - aus vielen Gründen. Härtel spricht im Interview über die Faktoren, die dazu geführt haben, und mögliche Reaktionen Deutschlands und der EU.

ntv.de: Will Putin die Sowjetunion wieder auferstehen lassen?

André Härtel: Da ist tatsächlich etwas dran. Allerdings muss man vorsichtig sein: Putin ist kein Phantast, ich halte ihn nach wie vor für einen sehr realistisch denkenden Außenpolitiker. Es geht ihm darum, Staaten auf dem postsowjetischen Territorium mehr oder weniger zu kontrollieren und zu verhindern, dass sie der EU oder der NATO beitreten und sich damit langfristig vom russischen Einzugsbereich verabschieden.

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Dr. André Härtel arbeitet bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

(Foto: SWP)

Womit wir mitten im Ukraine-Konflikt wären …

Ich denke, vieles, was wir jetzt sehen, geht auf einen Artikel von 2011 zurück, in dem Putin seine außenpolitischen Vorstellungen für die Region relativ klar umrissen hat. Die damals angestoßene Eurasische Wirtschaftsunion ist seit 2015 ein Integrationsprojekt nach dem Vorbild der EU, für das Kasachstan und die Ukraine - die allerdings nie Mitglied wurde - Schlüsselstaaten waren. Dieses russische Projekt hat die Europäische Union 2013 bei ihrem Assoziationsabkommen mit der Ukraine ein bisschen außer Acht gelassen, die EU wurde damit zum direkten Konkurrenten für Putins Pläne.

Und darauf musste er reagieren.

Putin ist klar, dass Russland mit seiner derzeitigen wirtschaftlichen Stärke kaum mit der EU mithalten kann und für Länder wie die Ukraine oder Georgien weniger attraktiv ist. Deshalb greift er auf die Sicherheitspolitik zurück. So will er verhindern, dass dort Politiker an die Macht kommen, die ihre Länder in die westlichen Institutionen führen wollen. Die Konflikte im Donbass, im georgischen Abchasien oder auch um Transnistrien in Moldawien sind Mittel, um zu verhindern, dass sich die dortigen politischen Führungen grundsätzlich dem Westen annähern.

Diese Konflikte bestehen teils seit vielen Jahren, bereits im vergangenen Jahr hat Russland Truppen an der Grenze zur Ukraine stationiert. Warum eskaliert die Situation gerade jetzt?

Das ist eine gute Frage, über die es viele Spekulationen gibt. Ich denke, dass in Putins Außenpolitik vieles aus dem Moment heraus geschieht, ohne ganz großen Masterplan. Er wartet einfach auf einen günstigen Moment. Angela Merkels Abtritt als Bundeskanzlerin war für Putin ein Schlüsselmoment. Zusammen mit anderen Faktoren hat er das wahrscheinlich als guten Zeitpunkt gesehen, um die Eskalation hochzufahren.

Was sind diese anderen Faktoren?

Etwa die wahrgenommene Instabilität der ukrainischen Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Aber auch langfristige Faktoren spielen eine Rolle, zum Beispiel der Generationenwechsel in der Ukraine. Noch gibt es dort eine Generation, die sich stark an die Sowjetunion erinnert. In 10, 15 oder 20 Jahren wird dagegen eine Generation dominieren, für die die Staatlichkeit der Ukraine selbstverständlich ist. Putin hat erkannt, dass es vielleicht einer der letzten Zeitpunkte ist, die Ukraine in den russischen Einflussbereich zurückzuholen, ohne dafür unberechtigt hohe Mittel einsetzen zu müssen.

Welche Faktoren gibt es mit Bezug auf Deutschland und die EU?

Das sind der Wechsel zu einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung, die wahrgenommene Schwäche Europas und die Tatsache, dass die EU derzeit mit sich selbst beschäftigt ist - nicht nur mit der Corona-Pandemie, sondern auch mit rechtspopulistischen Bewegungen und der fehlenden Migrationspolitik -, und dass das europäische Projekt auf einem gewissen Status quo verharrt. Da sieht Putin ein Einfallstor.

Sie sprechen von einer Schwäche der EU, die Putin wahrnimmt. Gleichzeitig spricht er davon, dass Russland vom Westen bedroht werde.

Das ist ein Teil seiner Taktik: das Einkreisungs-Narrativ, laut dem USA und NATO ihr Engagement ausbauen und Russland unter Druck setzen wollen. Ich glaube, ihm ist völlig klar, dass das Gegenteil der Fall ist: Dass sich die Amerikaner sehr gern weiter aus Europa zurückziehen möchten, dass sie den Europäern mehr Verantwortung für ihre Sicherheit übertragen möchten und eigentlich gar nicht so viele Ressourcen in einen Konflikt mit Russland investieren wollen, weil sie andere Prioritäten haben.

Vom Westen fordert Putin Sicherheitsgarantien, die eigentlich unerfüllbar und teilweise gar nicht verhandelbar sind für die NATO. Warum?

Dieser Forderungskatalog basiert auf einer Einschätzung der Lage, die nicht der Realität entspricht. Es gibt keinen politischen Prozess einer NATO-Integration der Ukraine. Zwar wird das immer wieder angesprochen, auch weil die Ukrainer das selbst einfordern. Wenn man sich aber die Debatten innerhalb der NATO anschaut, dann ist völlig klar, dass die Ukraine nie der NATO beitreten wird. Die russischen Sicherheitsinteressen werden schon seit Jahren von NATO-Staaten wie der Türkei oder Italien geteilt - es gibt also keinen Konsens für einen Beitritt der Ukraine. Das wird hundertprozentig auch in Moskau so wahrgenommen, aber die Rhetorik ist eine andere. Es ist nur ein von Russland geschaffener Vorwand, um solche Forderungen aufzustellen.

Aber es gibt Aktivitäten der NATO in der Ukraine.

Auch das ist vorgeschoben, sowohl was die Ukraine betrifft als auch andere NATO-Staaten wie das Baltikum. Dort sind bisher relativ kleine Kontingente von ein paar Hundert Soldaten stationiert, die keine Angriffsqualität, ja nicht einmal vielversprechende defensive Fähigkeiten haben. Das Konzept der Forward Presence dient eigentlich nur dazu, diesen Staaten ein besseres Sicherheitsgefühl zu geben. Die NATO-Präsenz in der Ukraine umfasst wiederum temporäre gemeinsame Manöver und militärische Ausbilder, zum Beispiel ein kleines britisches Kontingent. Der Vorwurf, die NATO wolle Raketen in der Ukraine stationieren, ist irreal. Warum sollte die NATO sie in einem so instabilen Land wie der Ukraine aufstellen?

Zuletzt gab es Gespräche zwischen Russland und den USA über den Ukraine-Konflikt. Die EU saß dabei am sprichwörtlichen Katzentisch. Wie kann die EU von dieser Rolle wegkommen?

Putin geht es auch darum, den Westen zu spalten. Das ist ihm auf eine gewisse Art und Weise gelungen, indem er die USA durch die Truppenbewegungen gezwungen hat, wieder die Führung unter den westlichen Mächten zu übernehmen. Wenn es um knallharte sicherheitspolitische Fragen ging, war es für die Amerikaner immer schwer, die Europäer einzubinden. Das weiß Putin natürlich, und die Debatten, inwieweit die Europäer mitgenommen werden, kommen ihm entgegen. Nicht nur Putin, auch die USA sehen die EU nicht als einen sicherheitspolitisch zuverlässigen und relevanten Akteur.

Wie sollte Europa damit umgehen?

Einerseits haben wir das Problem, dass unter Kanzler Olaf Scholz die Kontinuität der Ukraine-Politik nicht aufrechtzuerhalten ist. Es war abzusehen, dass die neue Regierung erstmal schaut, wie sie sich in diesem Konflikt und überhaupt international positioniert. Wir wissen derzeit gar nicht, wo wir in der Ukraine-Politik stehen. Die Rhetorik von Scholz ist zwar dieselbe wie bei Merkel, aber das Handeln nicht. Ich glaube, dass vor allem Sozialdemokraten Scholz ermuntern, mal zu schauen, ob man nicht doch einen moderateren Kurs gegenüber Putin fahren kann. Das hat dazu geführt, dass das Führungsprofil Deutschlands innerhalb des Normandie-Formats Geschichte ist. Aber es braucht die Führung eines großen Mitgliedstaates oder des deutsch-französischen Motors, damit die EU außenpolitisch überhaupt als gemeinschaftlich agierender Akteur auftreten kann. Das ist derzeit nicht der Fall.

Die Bundesregierung muss für ihre Linie derzeit viel Kritik einstecken.

Die russischen Truppenbewegungen und der Druck, den Russland ausübt, haben dafür gesorgt, dass alte Debatten aufflammen um die Zuverlässigkeit Deutschlands, um den Wert des transatlantischen Bündnisses, aber auch die Debatte um eine gesamteuropäische neue Sicherheitsordnung. Das sind sehr gefährliche Fragen für das außenpolitische Profil der EU.

Welche Auswege gibt es?

Es braucht eine stärker abgestimmte Gesamtstrategie zwischen den westlichen Partnern. Ich plädiere für eine Arbeitsteilung, denn es ist einfach nicht realistisch, dass Deutschland mit seiner Vergangenheit und dem derzeitigen Stand der Debatte Waffen an die Ukraine liefert. Das können andere machen, denen Deutschland innerhalb der NATO aber auch freie Hand lassen sollte. Deutschland und die EU sollten stattdessen für die ökonomische, energiepolitische und staatliche Sicherheit der Ukraine eintreten. Da wurde in den vergangenen sechs, sieben Jahren viel geleistet, da haben Bundesregierung und EU ein starkes Profil, viel stärker als in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Sich sicherheitspolitisch zu sehr auf die USA zu verlassen, birgt doch Gefahren, wenn man an einen Präsidenten Donald Trump denkt.

Ja, aber ohne die Amerikaner funktioniert es nicht. Die Europäer brauchen die sicherheitspolitische Komponente, die nur die Amerikaner bereitstellen können, um eine wirkliche Abschreckungsstrategie in Gang zu setzen. Aber natürlich sind die USA nicht mehr der sicherste Verbündete. Es gab Spekulationen, dass Biden Putin etwas anbieten und sich damit über europäische Interessen hinwegsetzen könnte. Aber ich glaube, Biden ist ein erfahrener Außenpolitiker, der die Interessen des Westens insgesamt im Auge behält.

Müssen die Europäer da umdenken?

Für sie gibt es zwei Botschaften: Erstens müssen sie in den nächsten Jahren realisieren, dass die Interessen der Amerikaner nicht mehr deckungsgleich mit den eigenen Interessen sind - die Europäer müssen sicherheitspolitisch ihre eigene Rolle finden. Zweitens denke ich, dass die USA politisch stabiler sind, als man denkt. Europa muss sich aber bewusst sein, dass sie als Partner für eine gewisse Zeit auch ausfallen können. Das haben wir unter Trump erlebt.

Mit André Härtel sprach Markus Lippold

Quelle: ntv.de

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