Samstag, 2. April 2022

Wie reagiert die Europäische Union, sollte Russland eines Tages ein Mitgliedsland angreifen? Tatsächlich hat die EU eine vertragliche Beistandsklausel. Angesichts des Ukraine-Krieges könnte Artikel 42, Absatz 7 in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Am 17. November 2015 stand Europa noch unter dem Schock der Terroranschläge von Paris, da geschah in Brüssel etwas Historisches: Frankreich rief den Bündnisfall der EU aus. Bei einem Treffen mit seinen Amtskollegen forderte Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian, die Mitgliedstaaten sollten auf bilateraler Ebene und "im Rahmen ihrer Möglichkeiten" helfen. Im Kampf gegen den "Islamischen Staat", der sich zu den Attentaten bekannt hatte, nahmen die Franzosen ihre europäischen Partner in die Pflicht.

 Bei Angriff auf Mitgliedstaat

Auch die EU kennt den Bündnisfall

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Am 10. und 11. März trafen sich die Spitzen der EU im französischen Versailles - und verwiesen in ihrer Erklärung auf die Beistandsklausel des Lissabon-Vertrags.

(Foto: picture alliance/dpa/BELGA)



Wie reagiert die Europäische Union, sollte Russland eines Tages ein Mitgliedsland angreifen? Tatsächlich hat die EU eine vertragliche Beistandsklausel. Angesichts des Ukraine-Krieges könnte Artikel 42, Absatz 7 in Zukunft an Bedeutung gewinnen.

Am 17. November 2015 stand Europa noch unter dem Schock der Terroranschläge von Paris, da geschah in Brüssel etwas Historisches: Frankreich rief den Bündnisfall der EU aus. Bei einem Treffen mit seinen Amtskollegen forderte Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian, die Mitgliedstaaten sollten auf bilateraler Ebene und "im Rahmen ihrer Möglichkeiten" helfen. Im Kampf gegen den "Islamischen Staat", der sich zu den Attentaten bekannt hatte, nahmen die Franzosen ihre europäischen Partner in die Pflicht.

Auf Twitter schrieb Le Drian später: "Die Berufung auf Artikel 42.7 wurde einstimmig unterstützt." Es war eine Premiere: Nie zuvor hatte ein Land von dieser Passage des Vertrags von Lissabon Gebrauch gemacht. In Artikel 42, Absatz 7 heißt es:

"Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt."

Einige Länder beteiligten sich daraufhin an Anti-Terror-Missionen. Deutschland etwa unterstützte im Irak und in Syrien die internationale Allianz gegen den IS. Auch bei anderen Einsätzen wurde ausgeholfen, etwa in Mali. Ziel war es, die französischen Truppen zu entlasten, damit diese sich neu ausrichten konnten.

Bislang blieb es glücklicherweise bei diesem ersten Mal. Die Beistandsklausel wurde seither nie wieder aktiviert, in der Öffentlichkeit spielte sie nur selten eine Rolle. Doch nun tobt ein Angriffskrieg in Europa. Der Kreml droht dem Westen, die Ukraine will der EU beitreten und es wird wieder diskutiert über mögliche Verpflichtungen bei einem Bündnisfall. Die Frage ist, wie man reagiert, sollte Russland eines Tages einen Mitgliedstaat überfallen. Ganz grundlegend geht es um die Rolle der Europäischen Union als Sicherheitsgarant.

Beistand ist nicht klar definiert

Tatsächlich erinnert die EU-Beistandsklausel an den weitaus bekannteren Artikel 5 der NATO. Der Bündnisfall tritt ein, sobald ein Mitglied angegriffen wird. Allerdings gibt es Unterschiede, sagt der Europa- und Sicherheitsexperte Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Zwar sei die Klausel rechtlich ähnlich bindend wie der entsprechende Passus des Nordatlantikvertrags. "Es ist aber nicht verpflichtend geregelt, wie genau der Beistand aussehen muss." Anders als die NATO habe die Europäische Union keine konkreten Pläne für die Organisation einer gemeinsamen Verteidigung. Die Länder handeln einzeln, Gespräche werden bilateral geführt.

Heißt: Sollte Russland einen Mitgliedstaat angreifen, könnte die Unterstützung von ziviler oder wirtschaftlicher Hilfe über Sanktionen oder Waffenlieferungen bis hin zu militärischen Interventionen reichen. Dass Soldaten geschickt oder etwa Flugverbotszonen eingerichtet werden, ist also keinesfalls ausgemacht.

Das zeigt der französische Bündnisfall von 2015. Einige Staaten widmeten bereits beschlossene Einsätze um, andere beteiligten sich an Ausbildungsmissionen, nur wenige unterstützen Luftschläge gegen den IS. Teilweise blieb es bei Symbolik. Hinzu kommt: Die meisten EU-Länder sind ohnehin Mitglieder der NATO. Für sie würde im Kriegsfall vorrangig Artikel 5 des Nordatlantikvertrags greifen.

Wichtig für neutrale und bündnisfreie Staaten

Die europäische Beistandsklausel ist somit vor allem für neutrale oder bündnisfreie EU-Staaten bedeutend, also Zypern, Malta, Österreich und Irland sowie natürlich für Finnland und Schweden. Letzteren drohte der Kreml wiederholt mit Vergeltung, sollten sie der NATO beitreten. Dies hätte "ernsthafte militärische und politische Folgen", sagte kürzlich Sergej Beljajew, Leiter der Europaabteilung des russischen Außenministeriums, der Agentur Interfax. Dass Artikel 42, Absatz 7 "den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt" lässt, ermöglicht den neutralen oder bündnisfreien EU-Ländern zugleich, bei einem Bündnisfall selbstbestimmt zu entscheiden und sich gegebenenfalls zu entziehen.

Nicolai von Ondarza ist überzeugt: "Wenn Russland seine finnischen Nachbarn angreifen würde, wäre die Klausel stark genug für militärische Antworten aus der EU." Doch auch unabhängig von dieser rechtlichen Verpflichtung, so der SWP-Experte, könnte die Europäische Union einen Krieg gegen eines ihrer Mitglieder nicht ohne konsequente Reaktionen hinnehmen. Alles andere würde die EU selbst infrage stellen.

Was aber bedeutet das für einen möglichen EU-Beitritt der Ukraine? Eine NATO-Mitgliedschaft des Landes scheint auf absehbare Zeit ausgeschlossen zu sein, die europäische Beistandsklausel könnte also in Zukunft zusätzlich an Bedeutung gewinnen. Auch die früheren Sowjetrepubliken Moldau und Georgien wollen in die Europäische Union, auch sie reagieren damit auf den Angriffskrieg der Russen.

Die drei Anträge werden nun geprüft, eine Mitgliedschaft im Schnellverfahren wird es für Kiew nicht geben. "Es ist eine Lehre aus dem Beitritt Zyperns, dass die EU keine Staaten mit territorialen Konflikten mehr aufnehmen will", sagt Nicolai von Ondarza. Ganz zu schweigen von dem umfassenden Katalog mit zahlreichen Kriterien für einen Beitritt. Sie betreffen Bereiche wie die Korruptionsbekämpfung, die Marktwirtschaft oder den Minderheitenschutz. Bis all das beurteilt ist, könnten Jahre vergehen.

Franzosen hoffen auf mehr Substanz

Wie viel Sicherheit kann und will die EU ihren heutigen und künftigen Mitgliedern garantieren? Will sie eine Verteidigungsunion sein? Besonders Finnland und Schweden dürften es als wichtiges Signal an Moskau verstanden haben, dass der EU-Gipfel von Versailles vor wenigen Wochen auf Artikel 42, Absatz 7 verwies - auch wenn er ihn nicht aufwertete. In der gemeinsamen Erklärung wurde zudem eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben angekündigt.

"Die Europäische Union muss nun einen Schnellkurs zum Sicherheitsakteur machen", sagt von Ondarza. Aktuell sei man zwar in der glücklichen Situation, dass die US-Regierung eng mit ihren Partnern zusammenarbeitet und Schutz verspricht. Allerdings werden die Vereinigten Staaten im Jahr 2024 ihren nächsten Präsidenten wählen. Sollte dieser nicht Joe Biden, sondern Donald Trump heißen, könnte die westliche Sicherheitsarchitektur, die NATO, abermals ins Wanken geraten. Angesichts der russischen Aggression, meint von Ondarza, erscheine der Aufbau militärischer Fähigkeiten und eine territoriale Verteidigung der EU umso wichtiger.

Und so könnte auch die Beistandsklausel des Vertrags von Lissabon konkreter und verbindlicher gefasst werden. Denkbar ist etwa, dass der EU eine größere Rolle bei der Koordination von Unterstützung zukäme. Schon im Jahr 2018 sagte der französische Staatschef Emmanuel Macron: "Dem Artikel 42, Absatz 7 des Vertrags über die Europäische Union, auf den Frankreich sich nach den Terroranschlägen 2015 zum ersten Mal berief, müssen wir in der Tat mehr Substanz verleihen."

Damals reagierten große Teile der Europäischen Union, darunter Deutschland, noch zurückhaltend. Auch diese Haltung dürfte sich durch den russischen Einmarsch in die Ukraine geändert haben.

Quelle: ntv.de

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