Mittwoch, 4. Mai 2022

uf der Internetseite Nukemap des Wissenschaftshistorikers Alex Wellerstein können die Auswirkungen von Atombomben verschiedener Größen überall auf der Welt simuliert werden, inklusive des von Fallout betroffenen Gebiets.

 Risiko für eigene Reihen

Was Russland von einem Atomschlag abhalten könnte

28554456.jpg

Taktische Atomwaffen können etwa mit Kurzstreckenraketen oder Marschflugkörpern des russischen Iskander-Systems verschossen werden - die Reichweite beträgt bis zu 600 Kilometer.

(Foto: picture alliance / dpa)



Der Ukrainekrieg läuft offenbar anders als von Russland geplant. Befürchtungen werden laut, Moskau könne taktische Atomwaffen einsetzen, um einen Sieg zu erzwingen. Doch neben politischen Konsequenzen gibt es einen weiteren Faktor, der den Einsatz solcher Waffen riskant macht.

Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist die Furcht vor einem Atomkrieg zurück. Bereits mehrfach hat die russische Führung ihre Fähigkeit zu nuklearen Schlägen ins Spiel gebracht. Auch im russischen Staatsfernsehen wird regelmäßig über den Einsatz von Atomwaffen gegen westliche Staaten fabuliert. Die Wahrscheinlichkeit für den Einsatz nuklearer Waffen wird von Experten zwar als gering eingeschätzt. Es gibt jedoch auch die Befürchtung, dass Russland kleinere Atombomben einsetzen könnte, um eine Niederlage in der Ukraine zu verhindern - oder um Kiew zur Kapitulation zu zwingen.

Die Rede ist von sogenannten taktischen Atomwaffen. Im Gegensatz zu strategischen Atomwaffen, die über eine große Distanz eingesetzt werden und mit ihrer hohen Sprengkraft Millionenstädte auslöschen können, besitzen taktische Kernwaffen meist eine geringere Sprengkraft und sind für den Einsatz auf dem Schlachtfeld konzipiert. Sie sollen etwa gegnerische Verbände dezimieren, um den eigenen Truppen einen Vorteil zu verschaffen. Russland kann auf ein gewaltiges Arsenal von derartigen Sprengköpfen mit geringer oder variabler Sprengkraft zurückgreifen, von denen es etwa 2000 besitzt.

Aber selbst diese "kleinen" Atombomben sind in ihrer Wirkung verheerend. Die taktischen Atomwaffen Russlands besitzen eine Sprengkraft von etwa 10 bis 100 Kilotonnen. Und mit Kilotonne ist die entsprechende Menge des Sprengstoffs TNT gemeint - also 10.000 bis 100.000 Tonnen davon. Zum Vergleich: Die gewaltige Ammoniumnitrat-Explosion 2020 in der libanesischen Hauptstadt Beirut entsprach etwa 1100 Tonnen TNTDie Hiroshima-Bombe hatte eine Sprengkraft von fast 13.000 Tonnen - etwa 146.000 Tote waren die Folge.

Gewaltiges Gebiet verseucht

Der Einsatz einer taktischen Atombombe könnte also schwere Schäden auf ukrainischer Seite verursachen. Doch auch für Russland birgt er ein Risiko - abgesehen von den politischen Konsequenzen. Eine Auswirkung wären unmittelbar spürbar: Gemeint ist Fallout.

Wird eine Atomwaffe nah über dem Boden gezündet, werden Asche und Staub in die Atmosphäre gesogen, wo sie sich im Atompilz mit radioaktiven Spaltprodukten der Bombe vermischen. Es entsteht strahlender Staub, der aus dem Stamm und dem Kopf der Pilzwolke wieder auf die Erde sinkt, man spricht von lokalem Fallout. Wind kann diesen über ein Gebiet von mehreren 1000 Quadratkilometern nahe der eigentlichen Explosion verteilen - welcher Bereich betroffen ist, hängt von Windrichtung und -stärke ab. Auf der Internetseite Nukemap des Wissenschaftshistorikers Alex Wellerstein können die Auswirkungen von Atombomben verschiedener Größen überall auf der Welt simuliert werden, inklusive des von Fallout betroffenen Gebiets.

Durch seine hohe Strahlungsintensität kann Fallout tödlich sein. Laut Nukemap hätte der Fallout einer taktischen Atomwaffe mit einer Sprengkraft von 50 Kilotonnen selbst bei mäßigem Wind noch in mehr als sieben Kilometern Entfernung vom Explosionsort tödliche Wirkung für alle, die sich im Freien aufhalten. Und noch in 50 Kilometern Entfernung droht eine krankmachende Dosis. Die Strahlungsdosis ist vor allem zu Beginn stark, nimmt in den folgenden Stunden jedoch schnell ab. Gebäude bieten guten Schutz vor Fallout - im Keller eines mehrgeschossigen Hauses ist die Gefahr relativ gering. Soldaten, die im Freien kampieren, wären jedoch vergleichsweise ungeschützt.

Im ungünstigen Fall könnte Russland durch den Einsatz von taktischen Atomwaffen also eigene Truppen oder die eigene Zivilbevölkerung gefährden - beziehungsweise die Bewohnter in der Ostukraine, die es nach eigenen Angaben ja "befreien" will. "Die Vorhersage von Folgen eines Einsatzes hängt von Sprengkraft, dem Einsatzort und den Wetterbedingungen wie der Windrichtung ab", erklärt Anne Balzer von der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) ntv.de. "Es ist anzunehmen, dass Russland keine Atomwaffe so einsetzt, dass die eigene Bevölkerung unmittelbar betroffen wäre." Dieses Risiko bestünde jedoch bei einem Einsatz im Donbass oder dem südlichem Teil der Ukraine.

"Fallout kann Grenzen überschreiten"

Aber auch ein Atomschlag in anderen Regionen der Ukraine birgt Risiken: Bei einem Einsatz einer 100-Kilotonnen-Bombe über Kiew würde der radioaktive Niederschlag zwar nicht bis an die russische Grenze reichen, je nach Wind- und Wetterbedingungen aber durchaus Auswirkungen auf Belarus haben, so Balzer. "Der Einsatz der gleichen Bombe über Charkiw hätte voraussichtlich Auswirkungen bis auf russisches Territorium und die dortige Bevölkerung." Auch Patricia Lewis, Leiterin des Programms für internationale Sicherheit bei der Denkfabrik Chatham House, warnte gegenüber der BBC: "Fallout kann Grenzen überschreiten."

Könnte die Gefahr des Fallouts Russland davon abhalten, taktische Atomwaffen in der Ukraine einzusetzen? Das ist schwer zu sagen. "Klar ist, dass jeder Einsatz einer Atomwaffe gegen das humanitäre Völkerrecht verstößt und die Umwelt für Generationen verseucht", betont Balzer. "Die Sowjetunion hat während der Entwicklung des Atomwaffenarsenals Tests auf dem damaligen Staatsterritorium unter anderem rund um Semipalatinsk im heutigen Kasachstan durchgeführt und noch heute leidet die Bevölkerung unter den Folgen der Tests."

Und da wären auch noch die politischen Risiken eines Atomwaffen-Einsatzes. "Wenn die russische Regierung tatsächlich eine Atomwaffe in der Ukraine einsetzen würde, würde dieser Schritt höchstwahrscheinlich einen Atomkrieg auslösen, dessen Folgen undenkbar sind", warnt Balzer. Es sei zwar zu hoffen, dass die USA nicht auf den Einsatz einer einzigen Atomwaffe ihrerseits mit einem atomaren Gegenschlag reagieren würde. Aber Simulationen in der Vergangenheit hätten gezeigt, dass es meistens zu einem ersten Austausch kommt, gefolgt von dem Einsatz aller strategischen Atomwaffen.

Quelle: ntv.de

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

reziprok zu den argy-anleihenkursen