e länger der Krieg in der Ukraine dauert und je mehr Gräuel gegen Zivilisten ans Licht kommen, desto lauter werden die Rufe nach Konsequenzen für die Täter. Doch wer trägt die strafrechtliche Verantwortung für begangene Kriegsverbrechen? Der Soldat, seine Einheit, das Militär - oder am Ende doch vor allem der russische Präsident? Im Interview mit ntv.de schildert der Buchautor Gerd Hankel die Herausforderungen, vor denen die internationale Strafjustiz angesichts des Ukraine-Kriegs steht. Und er zeigt ihre Grenzen auf.
ntv.de: Herr Hankel, kann ein Soldat, der an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg teilnimmt, überhaupt rechtskonform handeln?
Gerd Hankel: Die Teilnahme an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg bedeutet nicht, dass sich der Soldat deswegen strafbar macht. Wenn er die Regeln beachtet, die es für die Kriegsführung gibt, geschieht ihm nichts. Ein Angriffskrieg ist ein Führungsverbrechen: Wer ihn plant oder ihn befiehlt, macht sich strafbar. Der einzelne Soldat agiert nur als Instrument des Planenden. Das ist nicht verboten.
Sich im Krieg an alle Regeln zu halten, dürfte allerdings nicht ganz einfach sein …
Nimmt ein Soldat an den Kämpfen teil, besteht immer die Gefahr, dass er sich irgendwann mitten in der Begehung von Kriegsverbrechen befindet.
Also wäre es am sichersten, sich direkt zu ergeben?
Natürlich. Wer nicht mitmacht, macht sich auch nicht strafbar. Es gibt aber wahrscheinlich einen Rechtskonflikt mit den Gesetzen des Heimatlandes, aber das ist ein anderes Problem.
Butscha, Balaklija, Irpin - von der russischen Armee sind augenscheinlich schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden. Wer ist in solchen Fällen verantwortlich? Der Einzelne, seine Einheit - oder nur der Vorgesetzte?
Verantwortlich ist erst einmal der unmittelbare Täter - also derjenige, der den Abzug betätigt oder die Frau vergewaltigt hat. Verantwortlich sind aber auch diejenigen, die daneben gestanden und nichts unternommen haben, um das Verbrechen zu verhindern. Und auch der Vorgesetzte ist verantwortlich, wenn er das Ganze möglich gemacht, indem er dabei half, den Feind zu dehumanisieren, oder sogar zur Tat aufgefordert hat.
Kann sich der Soldat damit rechtfertigen, dass er nur auf Befehl gehandelt hat?
Nicht automatisch. Auch ein russischer Soldat, ob er nun aus Moskau oder Kamtschatka kommt, muss erkennen, wenn etwas offensichtlich unrecht ist. Straffreiheit kann es nur geben, wenn derjenige, der den Befehl erhält, selbst an Leib und Leben bedroht wird, sollte er ihn nicht ausführen. Niemand ist verpflichtet, mit seinem eigenen Leben für das Leben anderer einzustehen.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass auch die Erschießung von Kriegsgefangenen straffrei bleiben kann, wenn "deren Bewachung und Versorgung den Vormarsch und die Erfüllung taktischer Aufgaben behindert". Das klingt erstmal unglaublich.
Im Kriegsrecht ist das früher akzeptiert worden, wenn das Kümmern um Kriegsgefangene das weitere operative Geschehen gefährdet hätte. Heute ist das verboten.
Es verstieße ja auch gegen die Genfer Konvention, oder?
Das ist richtig. Man kann heute nicht mehr alles mit der Kriegsnotwendigkeit rechtfertigen. Denn das hieße, dass der Zweck alle Mittel heiligt - nach dem Motto: Wenn das Ziel nur hoch genug gesteckt wird, ist alles erlaubt.
Dennoch bleibt tödliche Gewalt gegen Zivilisten im Krieg unter Umständen straffrei.
Ja, das ist eigentlich ein Widerspruch. Wenn es aber darum geht, ein Kriegsrecht zu etablieren, das von möglichst vielen Staaten beachtet wird, dann muss es in gewisser Hinsicht auch offen sein. Eine beklagenswerte Offenheit ist die Abwägung zwischen militärischem Vorteil und zivilem Schaden, denn das Militärische erhält in der Regel den Vorzug - es sei denn, der zivile Schaden ist unerträglich hoch. Das führt manchmal dazu, dass Dutzende von Toten gerechtfertigt sind, weil jemand unwiderlegbar behaupten kann, dass er ein bestimmtes militärisches Ziel erreichen wollte. Das ist ein großes Problem.
In Ihrem Buch zögern Sie, bei dem Angriff auf die Ukraine von Völkermord zu sprechen. Warum?
Völkermord setzt eine bestimmte Anzahl von Opfern voraus, die allerdings nicht definiert ist. Sind es 100? Sind es 1000? Sind es 10.000? Die Zahl muss so hoch sein, dass das öffentliche Gewissen aufgerüttelt ist. Möglicherweise ist das in der Ukraine schon geschehen. Was ganz sicher schon geschehen ist, ist die gezielte Zerstörung von ukrainischen Kulturdenkmälern und von anderen Gebäuden, die für die ukrainische Identität stehen. Ob sich dieser Vernichtungsvorgang auch auf die Menschen, die die ukrainische Nation ausmachen, übertragen wird, kann man noch nicht sagen. Auf jeden Fall muss aber auch eine Völkermord-Absicht erwiesen sein. Das heißt, es muss der russischen Führung darauf angekommen sein, diese Menschen aus der Welt zu tilgen - und zwar alle, vom Kleinkind bis zum Greis, oder sie muss den Menschen in der Ukraine mit großer Energie eine Art Sklavendasein zugedacht haben. Ich weiß nicht, ob man dafür derzeit die notwendigen eindeutigen Belege finden kann.
Klingt eher unwahrscheinlich, die Absicht müsste ja irgendwo dokumentiert worden sein.
Es gibt noch eine andere Möglichkeit: Wenn aufgrund des faktischen Ablaufs völlig klar ist, dass jemand diese Absicht gehabt haben muss, kann er sich nicht rauswinden oder sagen, er habe es nicht gewollt. Bei der kulturellen Zerstörung, die eigentlich ein Kriegsverbrechen ist, funktioniert das vielleicht noch. Kommen viele Tausend Tote hinzu, geht das nicht. Und es geht erst recht nicht, wenn es zum Einsatz von Atomwaffen kommen sollte.
Gedroht wird ja immer wieder damit.
Spätestens dann wäre das Erfordernis der Absicht sehr, sehr evident.
Zu Beginn des Krieges hat auch der Bundeskanzler von "Putins Krieg" gesprochen - so, als wären die Russen daran völlig unbeteiligt. Ist das rechtlich korrekt?
Nach der Verfassung ist die Staatsführung diejenige Stelle, die den Kriegszustand erklärt. Insofern ist das schon korrekt. Die Russen und Russinnen sind allein schon wegen der hohen Entpolitisierung im Land nicht dafür verantwortlich, was der russische Präsident beschließt.
Gibt es keine zivilgesellschaftliche Mitschuld?
Nein, denn in dieser Diktatur ist die Möglichkeit, sich zu artikulieren und Kritik zu üben, die dem Kreml gefährlich werden kann, nicht mehr vorhanden. Denken Sie an die vielen Morde an Kremlkritikern - oder daran, was [dem Oppositionspolitiker] Alexej Nawalny passiert ist. Auch die Einwirkungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft sind extrem beschränkt. Insofern trifft sie auch keine strafrechtliche Verantwortung. Und ich denke, auch keine moralische.
Damit Putin vor Gericht gestellt werden kann, müsste er erstmal festgenommen und an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) ausgeliefert werden. Für wie wahrscheinlich halten Sie das?
Wenn man mich vor vielen Jahren gefragt hätte, ob ich eine Anklage von Slobodan Milošević für wahrscheinlich halte, hätte ich gesagt: "Das wird nie passieren". Auch Umar al-Baschir [Ex-Präsident vom Sudan] ist ein Beispiel: Im Leben kann vieles passieren. Und es kann auch passieren, dass Putin festgenommen, ausgeliefert und angeklagt wird. Der IStGH ist die richtige Instanz dafür. Denn in Russland wird es keinen so gravierenden Wechsel geben können, dass das Land die Verbrechen in einer Art Übergangsjustiz selbst aburteilt.
Kann Putin nicht vor ein ukrainisches Gericht gestellt werden?
Das ginge natürlich auch. Allerdings wäre der Verdacht groß, dass dort eine Art Siegerjustiz praktiziert werden würde. Im Übrigen hat Putin in seinem Agieren nicht nur die Ukraine, sondern auch ganz grundsätzlich die Gesetze der Menschheit verletzt. Die Tausenden Opfer, die materiellen Schäden - das ist etwas, das auch andere Länder, darunter Deutschland, zunehmend beunruhigt. Insofern gibt es ein Interesse an diesen Verfahren über die Grenzen der Ukraine hinaus.
Für den Aggressionskrieg gegen die Ukraine kann er allerdings nicht vorm IStGH angeklagt werden. Warum nicht?
Der Tatbestand wurde erst nachträglich in das Römische Statut - so heißt das Internationale Völkerstrafgesetzbuch - eingefügt. Geregelt ist, dass jemand, der einen Angriffskrieg befiehlt, nur dann vor dem IStGH angeklagt werden kann, wenn sein Staat Vertragspartei des Statuts von Rom ist. Man hat das gemacht, um die Zustimmung der Vertragsstaaten zu bekommen. Das wäre sonst nicht möglich gewesen.
Und Russland ist kein Vertragsstaat.
Genau. Daher rührt die Idee, ein Sondertribunal einzurichten. Gefordert wird das nicht nur von der Ukraine, sondern auch aus den USA und Großbritannien. Es könnte sich selbst ins Recht setzen und Putin wegen des Aggressionskriegs anklagen.
Nach dem Vorbild der Nürnberger Prozesse.
Ja. Gegen den Vorschlag ist auch gar nichts zu sagen, aber diese Idee wird eben auch von den USA und Großbritannien unterstützt, die selbst im Verdacht stehen, Kriegsverbrechen im Irak begangen zu haben. Es würde also sofort zu Einwänden aus Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika kommen. Die Glaubwürdigkeit des Tribunals wäre von Anfang an angeknackst.
Welchen Sinn hat der IStGH, wenn er die Verantwortlichen nicht hinter Gitter bringen kann?
Putin kann vor dem IStGH zwar nicht für den Angriffskrieg angeklagt werden, aber durchaus für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch dafür gibt es lebenslängliche Freiheitsstrafen. Würde das nicht passieren und Putin würde irgendwann wieder unbehelligt auf internationalen Konferenzen auftauchen, wäre das ein Desaster für das Völkerstrafrecht. Wie will man dann künftig noch Staatsführer, die Kriegsverbrechen befohlen haben, zur Verantwortung ziehen, wenn jemand, der das mit großer Offenheit und Evidenz gemacht hat, ungestraft bleibt? Das Fundament und die ganze Idee einer Internationalen Strafgerichtsbarkeit wären extrem erschüttert.
Mit Gerd Hankel sprach Judith Görs
Quelle: ntv.de
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen