Russland
Was will Putin?
„Russen und Ukrainer sind ein Volk – ein einziges Ganzes.“ So schrieb Wladimir Putin im Sommer 2021 in einem Essay. Die Ukraine, hieß es darin, sei ein künstliches Gebilde, „vollständig das Produkt der Sowjetzeit“. Ihr Streben nach Eigenständigkeit sei, so Putin, das Ergebnis westlicher Einflussnahme nach dem Prinzip „teile und herrsche“.
Wenige Monate später, am 24. Februar 2022, begann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine.
Drei Jahre danach, in der Nacht vom 9. auf den 10. September 2025, heulen in Polen die Sirenen. Mehr als 20 russische Drohnen verletzen den polnischen Luftraum, einige nehmen Kurs auf Rzeszów – das logistische Herz der Nato-Unterstützung für die Ukraine. Warschau beantragt Artikel-4-Konsultationen.
Der polnische Premier Donald Tusk warnt:
Diese Situation bringt uns einem offenen Konflikt so nah wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.
In den Tagen darauf folgen weitere Verletzungen des Luftraums über Rumänien und Estland.
Geht es Putin also längst um mehr als nur die Ukraine? Die gezielten Grenzverletzungen sind jedenfalls kein Zufall, sondern Teil eines größeren strategischen Kalküls Russlands. Doch worauf zielt dieses Kalkül ab? Kurzum: Was will Putin?
Auf dem geopolitischen Ideenmarkt der westlichen Hauptstädte dominieren zwei Deutungsangebote zur Erklärung seines Handelns. Die eine Lesart zeichnet das Bild eines kühlen Strategen, der sich vom Westen bedroht sieht und daher konsequent zum Angriff auf die Ukraine übergeht. Die andere sieht in ihm einen fanatischen Imperialisten, der aus ideologischen Motiven heraus die Ukraine einverleiben will.
Es gibt jedoch einige Anhaltspunkte, die nahelegen, dass es vor allem die Geoökonomie ist, die Putin in allererster Linie antreibt.
Schon bei den jüngsten Nato-Luftraumverletzungen spielen ökonomische Aspekte eine wichtige Rolle. Charlie Edwards, Senior Fellow für Strategie und Nationale Sicherheit am International Institute for Strategic Studies in London, erklärt: Moskau zwinge die Nato, teure Abwehrsysteme gegen billige Ziele einzusetzen.
Die russischen Drohnen bestehen oft aus einfachen Materialien wie Sperrholz und Styropor, kosten kaum 10.000 Euro pro Stück und können dennoch tief in den europäischen Luftraum eindringen. Wenn millionenteure Raketen und F-35-Jets gegen solch improvisierte Flugkörper eingesetzt werden müssen, wird Abschreckung zur Kostenfalle.
Soweit ein taktischer Beweggrund der jüngsten Vorfälle. Aber was ist die dahinterliegende Putin-Strategie?
Putin, der bedrohte Rationalist?
Eine Lesart, vertreten insbesondere von John Mearsheimer, Professor an der University of Chicago und prominenter Vertreter des Realismus in den Internationalen Beziehungen, beschreibt Putin nicht als Aggressor, sondern als reagierenden Akteur, der Russland gegen eine sich gen Osten ausdehnende Nato verteidigt.
Er ist der Stichwortgeber und intellektuelle Kronzeuge für alle, die Verständnis für die Aggression von Putin aufbringen. Sahra Wagenknecht etwa verweist regelmäßig auf Mearsheimer, um ihre Ablehnung der Waffenlieferungen an die Ukraine argumentativ zu untermauern.
Mearsheimer zufolge habe der Westen den Krieg provoziert, indem er die Ukraine schrittweise in seinen Einflussbereich gezogen hätte. Die Nato-Osterweiterung, die geplante Integration Kiews in die Europäische Union sowie die Unterstützung pro-westlicher Bewegungen seien Teil einer umfassenden Strategie gewesen, die Ukraine zu einem „westlichen Vorposten an Russlands Grenze“ zu machen.
Diese Entwicklung, so Mearsheimer, sei von Russland als existenzielle Bedrohung wahrgenommen worden – woraufhin Moskau am 24. Februar 2022 einen präventiven Krieg begonnen habe.
Die harten Fakten, erklärt Mauro Gilli, Professor für Militärstrategie an der Hertie School, stützten nicht die „militärische Bedrohung“, mit der einige die russische Invasion in die Ukraine zu rechtfertigen versuchen.
Gilli argumentiert, dass diejenigen, die sich auf die Nato-Erweiterung und ähnliche Argumente berufen, bewusst ein verzerrtes Bild gezeichnet hätten. Die Vorstellung, Moskau sei aus Sicherheitsbedenken zum Handeln gezwungen gewesen, sei „völlig haltlos“, so Gilli gegenüber The Pioneer.
Gilli erinnert daran, dass die Osterweiterung keine aggressive Expansion, sondern ein freiwilliger Beitritt souveräner Staaten gewesen sei, die Schutz vor Russland suchten.
Zudem habe es vor der Invasion der Krim und des Donbass im Jahr 2014 keine militärische Präsenz gegeben, die Russland hätte provozieren können: „Es gab keine permanente Stationierung westlicher Truppen an Russlands Grenzen, die Vorstellung einer Einkreisung entbehrt schlicht jeder faktischen Grundlage.“ Das habe sich erst 2017 geändert, als Reaktion auf die russischen Militäraktionen von 2014, und selbst dann nur in sehr begrenztem Umfang – bis zur umfassenden Invasion der Ukraine im Jahr 2022. Sein Fazit ist eindeutig:
Jeglicher Hinweis auf eine militärische Bedrohung Russlands war schlicht nicht vorhanden.
Das Gegenargument der Realisten: Es gehe nicht um die objektive, sondern die von Russland wahrgenommene Bedrohungslage. Politikwissenschaftler Prof. Johannes Varwick der Universität Halle-Wittenberg sagt The Pioneer: „Die russische Perzeption war: Die Ukraine ist auf dem Weg in die Nato. Man wollte das um jeden Preis verhindern, dafür hat man diesen Krieg begonnen.“
Diese Sicht impliziert: Putin ist kein ideologischer Fanatiker, sondern Rationalist. Zu seinen Zielen gehöre nicht, die Ukraine und deren Staatlichkeit zu vernichten, meint Varwick. Denn: „Putin ist nach wie vor – und auch Russland insgesamt – nicht wahnsinnig und strebt nicht nach der Weltherrschaft oder einer kompletten Neuordnung Europas.“ Der Weg zum Frieden funktioniere über einen „Interessenausgleich“.
Auch die Trump-Administration betrachtete Putin lange als rationalen Akteur – als jemanden, der auf sicherheitspolitische Bedrohungen reagiert und letztlich an Verhandlungslösungen interessiert sei. Doch nach dem Alaska-Gipfel, bei dem Trump Putin noch den roten Teppich ausrollte und ein Comeback auf westlicher Weltbühne ermöglichte, folgte die schwerste Bombardierung der Ukraine seit Kriegsbeginn.
Putin, der fanatische Imperialist?
Max Bergmann, Direktor des Stuart Center for Euro-Atlantic and Northern European Studies am einflussreichen US-Militär-Thinktank Center for Strategic and International Studies in Washington, D.C., erklärt Putins Handeln so: Putin handle nicht im Sinne nationaler Interessen oder zur Verbesserung des Lebens russischer Bürger. Vielmehr sehe er den Krieg als „das jüngste Kapitel des jahrhundertelangen sowjetischen und russischen Kampfes gegen den Westen“. Putins Ziel: „seinen Platz in der Geschichte als einer der großen Führer Russlands zu festigen“.
Doch was ist Putins Ideologie? Beeinflusst vom russischen Philosophen Alexander Dugin speist sie sich aus einem antiwestlichen, neoimperialen Denken. Dugin gilt als Vordenker der russischen Neuen Rechten und propagiert eine Abkehr vom Liberalismus zugunsten eines autoritären, „eurasischen“ Gegenentwurfs zum Westen. Er sieht die Globalisierung als eine zerstörerische Kraft, die kulturelle Identität, Religion und soziale Bindungen auflöst, und fordert eine „Revolte gegen die moderne Welt“ im Geiste Julius Evolas, eines faschistischen Rassentheoretikers der 1920er Jahre.
In Dugins Vision soll Russland eine führende Rolle in einem multipolaren Weltsystem einnehmen, das sich gegen den „atlantischen“ Westen richtet. Die Annexion der Krim und der Angriff auf die Ukraine lässt sich auch in dieser Diktion verstehen: ein spirituell überlegenes Eurasien im Widerstand gegen den liberalen Westen.
Zugespitzt formuliert: Ein Putin als ideologischer Weltmacht-Fantast, angeleitet durch den Willen zur historischen Selbstverwirklichung, ist nur bedingt an den Kosten des Krieges interessiert. „Putins Schmerz- und Risikotoleranz ist unglaublich hoch“, so Bergmann.
Trotz rund einer Million Gefallener, Verlusten von 138 Soldaten pro Quadratmeile Geländegewinn, der Zerstörung von über 3.000 Panzern, dem Abbau von bis zu 40 Prozent der Panzerreserven und Militärausgaben von rund 7,2 Prozent des BIP beziehungsweise 40 Prozent des Staatshaushalts habe sich Putins strategische Kalkulation kaum verändert. Selbst wachsende Haushaltsdefizite und steigende Inflation scheinen daran nichts zu ändern, so Bergmann.
Eine Infografik mit dem Titel:Russlands Panzer gehen zur Neige
Geschätzte Verluste des russischen Militärs seit Ukrainekriegsbeginn
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„Die Rationalität des Bösen“
Ist Putin also wirklich ein Fanatiker? Deutsche Politiker sind lagerübergreifend skeptisch.
CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter sieht in Wladimir Putin keinen Ideologen, sondern einen machtbewussten Strategen, der Ideologie als Werkzeug einsetzt. „Putin geht sehr strategisch vor und nutzt seine Ideologie gezielt“, sagt Kiesewetter The Pioneer. Sie diene ihm dazu, „die russische Bevölkerung zu mobilisieren, die Gesellschaft zu militarisieren und Brutalität zu legitimieren“. Der Bezug auf Denker wie Dugin oder historische Figuren wie Peter den Großen sei dabei bloß Fassade, um den imperialen Machtanspruch zu untermauern.
Er handelt kühl, langfristig geplant – das ist die Rationalität des Bösen.
, so Kiesewetter.
Auch SPD-Außenpolitiker Ralf Stegner warnt davor, Putin als getriebenen Fanatiker zu deuten. „Ich halte nichts von der Psychologisierung. Putin ist kein Ideologe, sondern ein kühl kalkulierender Machtpolitiker“, sagt Stegner im Gespräch mit The Pioneer. Er sehe in Putin „einen geschulten Geheimdienstmann, der sehr genau weiß, was er tut – ein Autokrat, ja, aber keiner, der seiner eigenen Propaganda glaubt“. Für Stegner ist klar: „Man muss ihn nüchtern betrachten. Er testet Grenzen aus, aber er handelt rational – nicht aus religiösem Wahn.“
It’s the (geo-)economy, stupid
Doch was treibt Putin dann um? Militärstratege Gilli erklärt: Der Ursprung des Krieges liege in Russlands politisch-ökonomischen System.
Laut Gilli weist das russische politisch-ökonomische System die Merkmale eines „nepotistischen Landes“ auf – also eines Staates, in dem Vetternwirtschaft und persönliche Beziehungen über Leistung entscheiden, in dem Beziehungen mehr zählen als Einfallsreichtum – ein System, das Innovation hemmt und soziale Mobilität unmöglich macht.
Putins Problem: Kapital fließe dorthin, wo Talente Chancen haben, „wo ein 22-Jähriger ohne Beziehungen mit einer guten Idee etwas aufbauen kann – also ins Silicon Valley, nicht nach Russland.“ In Russland hingegen gelte:
Wer arm ist, bleibt arm, und wer eine brillante Idee hat, den hört niemand.
Diese institutionelle Verkrustung mache es für Russland fast unmöglich, im globalen Wettbewerb mitzuhalten – weder bei Investitionen noch bei der Anziehung talentierter Zuwanderer.
Gerade deshalb, so Gilli, sei die Ukraine für das Kreml-System gefährlich. Beide Länder teilten Sprache, Kultur und familiäre Bindungen – der Vergleich liege also nahe. Wenn die Ukrainer durch eine engere Anbindung an die EU plötzlich mehr Wohlstand, Chancen und Freiheit genießten, sähen die Russen unmittelbar, dass ein alternatives Modell möglich ist.
„Das ist die eigentliche Bedrohung für Putin: nicht die Nato, sondern eine wohlhabende, demokratische Ukraine direkt vor der eigenen Haustür.“ Der Krieg, so argumentiert Gilli, sei daher ein Versuch, den EU-Beitritt der Ukraine zu verhindern – es sei kein Zufall, dass engere Beziehungen zur EU die Ereignisse von 2014 auslösten.
Denn: Ein wohlhabendes, erfolgreiches und offenes Nachbarland würde den Menschen in Russland zeigen, dass ihr eigenes, korruptes und erstarrtes System der eigentliche Grund für ihren Stillstand ist.
Ein Blick auf die Zahlen untermauert das: Seit 1990 haben die ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion, die heute Mitglied der Europäischen Union sind, ihr Bruttoinlandsprodukt im Schnitt verneunfacht. Dagegen legte Russlands Wirtschaft im selben Zeitraum nur um das 4,2-Fache zu.
Eine Infografik mit dem Titel:Post-sowjetische Vermögen
Veränderungen des nationalen BIP, 1990 bis 2024, in einem Vielfachen des aktuellen US-Dollar
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Während die russische Föderation 1990 mit einem BIP von rund 500 Milliarden US-Dollar noch doppelt so groß war wie die Summe der ex-sowjetischen EU-Mitgliedstaaten (ca. 250 Milliarden US-Dollar), hat sich dieses Verhältnis heute umgekehrt: Die neuen EU-Länder erreichen zusammen etwa 2,4 Billionen US-Dollar, Russland dagegen nur 2,2 Billionen US-Dollar.
Für Putin bedeutet das: Sollte die Ukraine denselben Weg wie Polen oder Estland einschlagen, würde ihr wirtschaftlicher Aufstieg unübersehbar belegen, dass nicht westliche Einflüsse, sondern das russische System selbst die Quelle von Stagnation und Armut ist. „Putin fürchtet Machtverlust durch Freiheit und Demokratie“, meint auch Kiesewetter.
Empire by Force
Wo wirtschaftliche Attraktivität fehlt, ersetzt Moskau Anziehung durch Zwang. Das gilt insbesondere für die russische Außenpolitik. Der norwegische Historiker Geir Lundestad spricht von einem „Empire by Force“ im Gegensatz zu einem „Empire by Invitation“: Während die USA nach 1945 in Europa ein „Empire by Invitation“ aufbauten, das auf ökonomischen Vorteilen, Sicherheitsgarantien und institutioneller Integration beruhte, bietet Russland heute kaum rationale Anreize für freiwillige Kooperation. Seine Nachbarn profitieren weder von einem stabilen Rechtsrahmen noch von einem attraktiven Markt oder technologischem Austausch.
Auch über Soft Power – also kulturelle, normative oder ökonomische Attraktivität – verfügt Moskau kaum. Wo natürliche Anreize zur Kooperation fehlen, greift der Kreml zu härteren Mitteln: Militär, Propaganda, Desinformation. Zwang, nicht Einladung, dominiert die russische Außenpolitik.
Zwischen der Deutung Putins als Rationalist und als Fanatiker liegt also eine dritte, oft übersehene Dimension: die Geoökonomie Russlands.
Weder Nato-Erweiterung noch ideologische Visionen erklären Putins Handeln hinreichend. Der Kern liegt im russischen System selbst – in einem Staat, der Loyalität über Leistung und Kontrolle über Innovation stellt.
Eine erfolgreiche, europäisch integrierte Ukraine würde zeigen, dass Wohlstand, Freiheit und Sicherheit auch jenseits des russischen Modells möglich sind. Putin will keine neue Welt schaffen – er will verhindern, dass eine alte verschwindet. Nicht der Westen bedroht Russland, sondern der Spiegel, den ihm die Ukraine vorhält. In dieser Angst liegt das ökonomische Kalkül des Kremls begründe
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