POLITIK
Interview zum Taiwan-Konflikt"Mittelfristig steigt die Kriegsgefahr"
Während Europa gebannt auf die russisch-ukrainische Grenze schaut, gerät ein anderer Konfliktherd etwas aus dem Blickfeld: Taiwan. Die Volksrepublik China erhebt Anspruch auf die Inselrepublik und untermauerte dies zuletzt immer wieder mit militärischen Drohgebärden. "Mittelfristig gesehen steigt die Kriegsgefahr", sagt dazu Helena Legarda vom Forschungsinstitut Merics im Interview mit ntv.de - und erklärt die historischen Hintergründe des Konflikts. Sie spricht aber auch über den veränderten deutschen Blick auf China, die Bundeswehr-Fregatte im Indopazifik und mögliche Reaktionen auf eine Eskalation der Lage.
ntv.de: Erwarten Sie, dass es eine militärische Eroberung Taiwans durch China gibt?
Helena Legarda: Keine Seite will Krieg. Taiwan natürlich nicht, aber auch China und die USA wollen keinen Krieg. Die Sorgen wachsen jedoch, weil China zunehmend aggressiv Anspruch auf die Insel erhebt, auch mit militärischen Drohgebärden. Hinzu kommt die Deadline, die Xi Jinping scheinbar gesetzt hat: Er will eine Wiedervereinigung mit Taiwan, die bis 2049 stattfinden soll. Das bringt uns langsam einem möglichen Angriff näher. China strebt zwar eine friedliche Vereinigung an, aber wenn diese nicht gelingt, schließt es Gewalt nicht aus. Und weil es in Taiwan keine Unterstützung für einen Anschluss an die Volksrepublik gibt, könnte eine militärische Eroberung am Ende Pekings einzige Option sein. Natürlich kann niemand sagen, wann das passieren könnte. Aber mittelfristig gesehen steigt die Kriegsgefahr.
Vor allem seit Xi im Amt ist, haben die Drohgebärden zugenommen. Ist die Eroberung Taiwans Konsens in der chinesischen Staatsführung?
Zumindest ist es die offizielle chinesische Linie. Seit Xi im Amt ist, strebt er rhetorisch die Wiedervereinigung mit Taiwan an. Aber massiv zugenommen haben die militärischen Drohgebärden 2016, als in Taiwan die jetzige Präsidentin Tsai Ing-wen ins Amt kam. Sie gehört der Demokratischen Fortschrittspartei an, die den Status quo beibehalten will und die Unabhängigkeit eher befürwortet als die andere große Partei, die Kuomintang.
Wie sieht denn die taiwanische Öffentlichkeit eine mögliche Vereinigung mit der Volksrepublik?
Eine Mehrheit der Bevölkerung lehnt das klar ab. Die Zahl derjenigen, die an eine Vereinigung oder engere politische Bindungen zu China glauben, nimmt sogar ab. Dieser Trend hält seit einer ganzen Weile an, zum Teil wegen des Generationsunterschieds. Aber er wurde zuletzt noch beschleunigt durch das Vorgehen Pekings in Hongkong. Die Volksrepublik hat Taiwan in der Vergangenheit eine Vereinigung unter dem Konzept "Ein Land, zwei Systeme" vorgeschlagen, wie es auch in Hongkong gilt. Doch dort hat Peking durchgegriffen und das Konzept im Prinzip beerdigt. Die Ablehnung einer Vereinigung nimmt seitdem in Taiwan zu.
Die Insel Taiwan war nie Teil der Volksrepublik. Warum ist es China so wichtig, sie sich einzuverleiben?
Peking betrachtet Taiwan als einen unveräußerlichen Teil seines Territoriums. Das hat historische und ideologische Gründe und dient der Legitimierung der Kommunistischen Partei Chinas. Diese hat 1949 nicht nur den Bürgerkrieg gegen die Truppen der Republik China um Chiang Kai-shek gewonnen, sondern nimmt für sich auch in Anspruch, China von der imperialistischen Unterjochung befreit und die Japaner aus China vertrieben zu haben. Seit Gründung der Volksrepublik gehört es zum Selbstverständnis der Kommunistischen Partei, dass sie ein Jahrhundert der Erniedrigung durch Kolonialmächte beendet hat und die einzige Kraft ist, die Chinas Einheit und Stärke wiederherstellen und gegen äußere Feinde verteidigen kann. Darüber hinaus ist Taiwan für Peking aufgrund seiner Lage in der ersten Inselkette von strategischer Bedeutung.
Gibt es Anzeichen in der Rüstungspolitik Chinas, die auf eine geplante Eroberung Taiwans hinweisen?
China modernisiert seit einer ganzen Weile seine militärische Ausrüstung, Xi hat ja nach seinem Amtsantritt 2012 einen umfassenden Modernisierungsprozess des Militärs gestartet. Bislang wurde der Schwerpunkt auf die Entwicklung größerer militärischer Ausrüstungsplattformen gelegt, bei der Marine zum Beispiel Kreuzer oder Zerstörer. Es geht dabei um Rüstung, mit der Peking auch weitab von China, also im Prinzip weltweit agieren kann.
Für eine Invasion Taiwans wären aber andere Fahrzeuge nötig?
Bei einer Eroberung denkt man eher an amphibische Angriffsschiffe, Landungsschiffe oder Flugzeuge, mit denen schnell Truppen an Land gebracht werden können. China scheint jedoch noch nicht über die Anzahl dieser Plattformen zu verfügen, die für eine Eroberung Taiwans nötig wäre. Das heißt aber nicht, dass es sich nicht auf eine Invasion vorbereitet, denn China könnte auch ganz anders angreifen, etwa durch Luftangriffe auf strategisch wichtige Punkte oder durch eine Seeblockade, mit der Taiwan zur Aufgabe gebracht werden soll.
In Deutschland wird China vor allem als Handelspartner wahrgenommen. Wie reagieren die Bundesregierung und die EU auf die zunehmende militärische und strategische Macht des Landes?
Deutschlands Blick auf China verändert sich, vor allem sicherheitspolitisch. Deutschland und die EU sehen nicht nur die Aufrüstung und die Modernisierung des Militärs mit Sorge, sondern vor allem die chinesischen Ambitionen. Die Frage, wie China seine wachsende Militärmacht einsetzen wird und welche Auswirkungen es auf die regelbasierte internationale Ordnung sowie auf die deutschen und europäischen Interessen und die Sicherheit hat, ist zum grundlegenden Thema geworden. Diese Bedenken spiegeln sich auch in der Indo-Pazifik-Strategie der EU, die erst vor wenigen Monaten veröffentlicht wurde. Diese Strategie hat ein sehr breites Spektrum, es geht nicht nur um China, aber das Land ist natürlich der Elefant im Raum.
Was geht aus dieser Strategie hervor?
Gerade im Kapitel zur Sicherheitspolitik wird schnell klar, dass die EU besorgt auf die chinesischen Ambitionen und deren wachsende Militärmacht reagiert. Das ist einerseits wichtig, weil die EU selbst keine große Militärmacht ist. Und zweitens hat sich diese Entwicklung innerhalb weniger Jahre vollzogen. Noch vor kurzem standen Themen wie Wirtschaft und Handel ganz oben auf der Prioritätenliste der EU im Verhältnis zu China, nicht Militär und Sicherheit. Mittlerweile ist aber klar, dass diese schnelle Entwicklung von Chinas globaler Macht die EU und auch Deutschland herausfordern, und sie darauf reagieren müssen.
Deutschland hat, noch unter der alten Bundesregierung, eine Fregatte in den Indopazifik entsandt. Wie wurde das in China aufgenommen?
Das war vor allem vor dem Regierungswechsel ein Thema. Peking hat das natürlich nicht gerade mit Freude registriert. Es wurde als Signal interpretiert, dass Deutschland sich stärker im Indopazifik engagieren will, möglicherweise auch zusammen mit Partnern wie den USA. Das will Peking eigentlich um jeden Preis verhindern, denn eine der größten Sorgen ist, dass sich eine Allianz unter westlicher Führung bildet und China entgegentritt. Wenn nun Staaten wie Deutschland, die China zumindest militärisch bisher eher neutral gegenüberstanden, plötzlich ihre Strategie ändern und sich stärker im Indopazifik engagieren, dann wird das von Peking sehr genau wahrgenommen. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum China der deutschen Fregatte auch die Zufahrt zum Hafen von Shanghai verwehrt. Offiziell wurde das mit der Corona-Pandemie begründet, aber es stehen sicherlich geostrategische Überlegungen dahinter.
Nun gab es den Regierungswechsel - wie wird der von Peking bewertet?
Sie warten ab, wie sich die neue Regierung verhält, ob in den kommenden Jahren zum Beispiel ein weiteres Schiff entsandt wird. Dann kann China entsprechend reagieren.
Die neue Außenministerin Annalena Baerbock will ihre Politik mehr an Werten orientieren und auch offensiver mit China umgehen. Wie könnten Deutschland und die EU auf chinesische Provokationen oder sogar ein militärisches Vorgehen gegen Taiwan reagieren?
Die meisten europäischen Länder haben keine ständige militärische Präsenz im Indopazifik, und viele sind nicht mal starke Militärmächte. Europa könnte Taiwan also militärisch kaum oder gar nicht unterstützen. Aber sollten Partner wie die USA oder Japan involviert sein, würden sie von Europa sicher die politische Unterstützung Taiwans erwarten, und natürlich auch Maßnahmen gegen China, etwa Sanktionen. Angesichts von Baerbocks Ankündigung einer neuen China-Politik könnte Deutschland in solch einem Fall die Führungsrolle innerhalb Europas übernehmen. Allerdings ist die neue Bundesregierung erst sehr kurz im Amt. Man muss abwarten, welchen Kurs sie in den Beziehungen zu China letztlich nimmt.
Taiwan hat zuletzt vermehrt Delegationen in europäische Länder entsandt und in Litauen sogar eine Botschaft eröffnet. Könnte Deutschland engere Beziehungen zu Taiwan knüpfen oder es sogar diplomatisch anerkennen?
In Deutschland gibt es bereits eine Vertretung, die zwar mit Rücksicht auf die Ein-China-Politik Taipeh-Vertretungsbüro genannt wird, aber de facto die Aufgaben einer Botschaft übernimmt. Eine diplomatische Anerkennung kann ich mir aber nicht vorstellen, da das die Ein-China-Politik verletzen und das Ende der diplomatischen Beziehungen zur Volksrepublik bedeuten würde. Das ist etwas, wozu weder Deutschland noch die meisten anderen Länder bereit sind. Aber ich denke, dass es mehr Austausch geben könnte. Taiwan ist derzeit bemüht, die Beziehungen zu Europa zu stärken, auch um politische und diplomatische Unterstützung zu erhalten. Europa wiederum lässt sich darauf ein, ohne aber Taiwan offiziell anzuerkennen.
Mit Helena Legarda sprach Markus Lippold
Quelle: ntv.de
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